Hardturm forever
Über 20 Jahre spielte der Grasshopper Club im Exil. Jetzt steht der Hardturm wieder – und wir pilgern zum Stadion.

Heute ist Matchtag – der beste Tag der Woche. 90 Minuten lang geteilte Freude, geteiltes Leid, geteiltes Bier. Ein kurzer Blick aufs Handy: «Träffemer eus direkt bim Hardturm?», schreibt ein GC-Kollege in den Gruppenchat. Ich reagiere mit dem Daumen-nach-oben-Emoji und schlüpfe in meine Kurvenuniform: Jeans, ein weisses Shirt und darüber die blaue vintage GC-Adidas-Jacke aus den Neunzigern. Damals war Salami Beretta noch unser Trikotsponsor. Ich schwinge mich aufs Fahrrad.
Zum Takt des Liedes, das durch meine Kopfhörer in mein Ohr schallt, trete ich in die Pedale. Der Weg führt mich durch den Kreis 5 zum Escher-Wyss-Platz, den Tramschienen entlang und vorbei an den Bernoulli-Häusern. Langsam erkenne ich die Masten der Scheinwerfer, die wie Kirchtürme zwischen den Häusern des Wohnquartiers emporragen. Und dann steht er da, der Hardturm. Sein Dasein fühlt sich surreal an. Doch die Zweifel an seiner Existenz prallen an seinen Betonmauern ab. Meine Heimatstadt Zürich hat nach über 20 Jahren wieder ein Fussballstadion, der Grasshopper Club nach Jahren im Exil wieder ein Zuhause.
Im Dezember 2008 fuhren die Bagger mit ihren scharfen Zähnen auf und bissen sich in die Graffiti-besprayten Wände des Hardturms. Innerhalb von drei Monaten rissen sie 78 Jahre Clubgeschichte nieder. Heute vor dem fertig gebauten Hardturm zu stehen – das fühlt sich an wie der grösste Triumph der letzten zwei Jahrzehnte.
Dieser Ort bedeutet mir viel, obwohl ich im alten Hardturm noch nie ein Spiel gesehen habe. Meine Zwangsheimat war bislang der Letzigrund. In all den Jahren habe ich etwas vermisst, was ich nie hatte. War geplagt von Phantomschmerzen. Trotzdem, durch all die Erzählungen meines Vaters und älteren GC-Fans, von den Liedern, die ich jeden Match singe, den Schals und Shirts, auf denen er als Motiv zu sehen ist, bekam er einen hohen Stellenwert in meinem Leben. Nicht zuletzt, weil der Hardturm für Erfolg steht. In diesem Stadion holte der Schweizer Rekordmeister 20 seiner insgesamt 27 Meistertitel. Hier warf GC 1978 Real Madrid aus dem Europacup. Hier fand im Jahr 2004 der legendäre 6:5-Derby-Sieg im Cup-Halbfinale statt.
Basel hat die Muttenzerkurve, St. Gallen den Espenblock, der FCZ die Südkurve. Und GC? GC hat den Hardturm. Dieses Stadion ist der Klebstoff, der die unterschiedlichsten Fans zusammenhält. Hier entsteht eine temporäre Solidarität, basierend auf dem Konsens, weshalb man hier ist. Der Kulturwissenschaftler Matthias Marschik beschreibt Fussballstadien deshalb als «Phantome der Einmütigkeit».
Der Hardturm verbindet. Seit er wieder steht, sind wir viele. Die schlafenden Fans, die den Letzigrund boykottierten oder nur zu Derbys oder Barrage-Spielen kamen, sind aufgewacht. Kinder springen aufgeregt in und vor dem Stadion in zu grossen GC-Trikots an der Hand ihrer Eltern auf und ab. Die Jugendlichen stehen stolz Seite an Seite mit ihren Freund:innen in der Kurve. Wir alle sind heute für den Grasshopper Club hergekommen. In den nächsten Stunden verfolgen wir gemeinsam ein und dasselbe Ziel.
Für etwas einzustehen, tut gut. Das Leben befindet sich in stetigem Wandel. Der Fussball hingegen bleibt konstant. Einmal die Woche ist Match. Das konkrete Datum wird schon Tage davor im Kalender geblockt. Selten gibt es etwas, was uns davon abhält, unserem Team in die Stadien der Schweiz zu folgen und unsere Nervosität innerhalb von 90 Minuten singend, springend und klatschend zu entladen.
Ein Stadion ist Heimat und Gedächtnis. Ist Antithese zu den alltäglichen Erfahrungen von Anonymität, Verlust und Isolation. «Das Stadion wird zum Desiderat oder Substitut von Heimat in einer anonymen Stadt, wo es ansatzweise gelingt, Differenzen zwischen den Kulturen und Ethnien durch populäre Inszenierungen zu überdecken», schreibt Marschik.
Zugleich repräsentiert es Kontrolle und Widerstand. Bildet einen Ort zwischen Gesetz und Unordnung. Wer in der Kurve wo steht, ist ungeschriebenes Gesetz. Ultra-Gruppierungen beispielsweise stehen immer an vorderster Front. Fans verweigern die Kooperation mit den Behörden. Wollen keine zusätzlich auferlegten Richtlinien. «D’Kurve als Freiruum erhalte», lautet die Parole in diesem Zusammenhang.
Und darum geht’s. Im Fussballstadion fühlt sich ein Fan frei. Hier verlässt die Vernunft den Rasen und macht Platz für den Affekt. Wie in einem dampfenden Hexenkessel heizt sich die Stimmung auf. Der durch das Dach aufsteigende Rauch der Pyros signalisiert nach aussen: Hier wird gezaubert. Gleichzeitig schirmen die mit Fans gefüllten, steilen Ränge während eineinhalb Stunden von der Aussenwelt ab. Was ich hier gemeinsam mit den anderen in blau-weiss gekleideten Personen fühle, halten die Wände des Stadions sicher umschlossen.
Ich kann den heutigen Anpfiff kaum erwarten.
Der Hardturm wurde 1929 erbaut und war die erste Heimspielstätte des Grasshopper Club Zürichs. 2008 wurde er abgerissen. Dieser Text blickt in eine Zukunft, in der das Stadion wieder steht. Bis dahin singt die Autorin in der Kurve: «Ich chans chuum erwarte, dich im Hardturm spiele zgseh.»
Spezialausgabe
Libell 25: so gesehen
Claude Menzi (1999*) studiert Kulturpublizistik an der Zürcher Hochschule der Künste und arbeitet nebenbei als freie Journalistin.