Bis der Sommer endet
Am Pelikanbrunnen: Wie finden wir heraus, wann es Zeit ist, zu gehen, und wie brechen wir mit dem, was uns zurückhält?

Mein neues Zuhause liegt an einem schrägen Hang. Die Strasse davor führt schnurgerade durchs Quartier. Vor meinem Haus gabelt und öffnet sie sich. Sie leitet ab da in zwei Richtungen – in die Stadt und zur Stadt hinaus. In den sommerlichen Morgenstunden sitze ich oft an der Spitze dieser Gabelung, neben einem Brunnen, auf dem ein Pelikan aus Granit steht. Scheinbar endlos preschen die Autos an uns vorbei, an dem Pelikan und mir, zielgerichtet, genauso wie die Trolley-Busse, die über den sich aufwärmenden Asphalt rattern. Das Wasser neben mir plätschert. Der Tabak meiner Zigaretten brennt ab, ich atme ein und aus und die Asche fällt.
Nie hätte ich hier nach Zürich ziehen wollen. Am Ende waren es vor allem die Enden der Stränge, die mich hier in die Schräge brachten; diese Enden, an die ich mich klammern wollte, zu allem entschlossen, im ständigen Wissen, dass die Kraft zum Festhalten schon lange nachgelassen hatte. Jetzt bin ich also hier gelandet; da wo die Enden endeten und die Anfänge anfangen werden. Hier, in diesem Dazwischen, verlaufen die Stunden schräg zur Zeit; sie ziehen sich, plätschernd, ewig lange in die Tage hinein; und die plätschernden Stunden verstreichen, neben meinem steinernen Kumpanen, mit seinem verständnisvollen Blick und seiner aufrechten Haltung, der geduldig mit mir ausharrt.
Ich lese: Der Pelikan ist nicht heimisch hier in Mitteleuropa, in Zürich, in der Schräge. Die Schweizerische Vogelwache klassifiziert alle Pelikanarten in der Schweiz mit dem Status «Irrgast». Die Vögel sind in wärmeren, tropischen und subtropischen Regionen beheimatet, so in Südosteuropa, wo die einzigen zwei auf dem europäischen Kontinent permanent vorkommenden Arten leben: der Rosa- und der Krauskopfpelikan. Ich recherchiere weiter über die beiden Pelikanarten, charakteristisch für die Vögel seien: der lange Schnabel, der fast einen halben Meter misst, und der unproportionale Körper, der ohne Gegenwind kaum abheben kann. Ich lese: «Der zu lange Hals trägt den Kopf anscheinend nur mit Mühe. Im Flug liegt er wie ein Fragezeichen eingezogen auf der Schulter, weil er sonst herabhängen würde.»
Ich mag es, wie sich die Tabakfäden unter dem dünnen Papier zwischen meinen Fingerspitzen anfühlen, ich mag es, beim Pelikan-Brunnen einen erfrischenden Schluck Wasser zu trinken, um den nie enden wollenden sommerlichen Durst zu stillen, und ich mag es, meine Füsse aus den Birkenstöcken zu nehmen, um den körnigen Asphalt unter meinen Sohlen zu spüren. Die Zeit dreht und dreht und dreht sich, wie meine Hände die Zigaretten. «Vielleicht ist ein neuer Ort trotzdem der richtige Ort, um neu anzufangen.» Stehen zu bleiben an der Gabelung heisst Sicherheit; aber an der Gabelung, aus dem Stillstand heraus, wächst eine immer lauter werdende Sehnsucht in mir, die sich mit jedem Schritt vom Haus zur Spitze, mit jedem Stummel, der abbrennt, mit jedem Blick in die steinernen Pelikanaugen schleichend aufbaut; und nach und nach wird sie unaushaltbar, diese Sehnsucht, wie die Julihitze in der Stadt.
Wenn ein Pelikan in freier Wildbahn hierzulande gesehen wird, wird das sogleich in den Zeitungen gedruckt. Ein Pelikan an einem See in der Schweiz: eine Sensation, ein seltener Anblick, ein einmaliges Erlebnis. «Irrgäste können nicht heimisch sein, ist ja klar.» Die Sensationsfreude wird aber immer jäh gebremst: «Ist wohl aus Gefangenschaft ausgebüxt», heisst es immer wieder in den Artikeln. Im Sommer 2016 wird ein Rötelpelikan am Bodensee gesichtet, der zweite überhaupt in der Schweiz, aber: «Wild kommt der Rötelpelikan nur im tropischen Afrika südlich der Sahara vor.» Die wilden Pelikane führt es nicht hierher, nur die gefangenen; die, die eigentlich nicht fliegen sollten und längst vergessen haben, wohin sie gehören.
Ich tätschele die Flügel des Pelikans. Ich sage ihm «Tschüss», kein «Tschüss» für immer, vielmehr ein «Tschüss», das man sagt, wenn man länger verreist, das Raum lässt für ein «Bis bald». Ich bewege mich von der Spitze der Gabelung weg, ich frage mich nicht mehr, wohin, sondern versuche, einfach zu gehen. «Es kann doch so verrückt sein, darüber nachzudenken, wo man vor einem halben Jahr noch war und wo man heute steht und wie es einem vorkommen kann, als wäre unterdessen gar nichts gewesen.» Ich blicke zurück zum Pelikan, er regt sich nicht; ich gehe Schritt für Schritt; und in die nächste Mülltonne schmeisse ich den Tabak, die Filter und das Papier, das Feuerzeug behalte ich, das kann ich noch gebrauchen.
Der Pelikan ist ein emsiger Jäger. Wie ein Pfeil schiesst er ins Wasser, sobald er seine Beute erblickt. Im Sturzflug, kopfvoran, lässt er sich kraftvoll fallen, beim Aufprall kann es meterhoch spritzen. Sein Schnabel kann bis zu elf Liter fassen; fasst er nebst Fischen Wasser, muss er dieses zuerst ablassen, bevor er sie schlucken kann. Danach steigt der Vogel dank seiner Ruderfüsse wieder aus den Wellen empor in die Lüfte. Sein ungleichmässiger Körper hebt sich nur schwerfällig aus dem Wasser, dabei sehe er oft so aus, als kämpfe er gegen die Schwerkraft. Der Pelikan wiederholt und wiederholt diesen Vorgang, er braucht viel Futter: Ein Zehntel seines Körpergewichts muss er täglich fressen, und mit jedem Sturzflug wird der Hunger noch grösser.
«Bis der Sommer endet, werde ich der Versuchung widerstehen müssen, danach sollte es mir sicher leichter fallen.» Ich stelle mir einen Krauskopfpelikan am Meer vor, wie er sich aus den Wellen hievt, um abzuheben. «Ich habe gehört, dass es nicht schlau sei, eine letzte Zigarette zu rauchen, man sollte – wenn man es ernst meint – von heute auf morgen einfach aufhören, es durchziehen, ohne grosses Tamtam.» Nach dutzenden Tauchgängen fliegt er davon, als wäre er schwerelos, mit ruhigen Flügelschlägen der Sonne entgegen. «Dem Pelikan habe ich versprochen, dass ich immer an ihn denken werde, wenn ich den Geruch von Tabak rieche.» Hinter dem Horizont verschwindet er, und ich weiss, dass er sein Ziel finden wird. «Tschüss! Ich fahr’ dann mal los.» «Wohin denn?», fragt meine Mitbewohnerin. «Das weiss ich noch nicht, aber am liebsten irgendwo ans Wasser», sage ich in Badehose zu ihr, ehe ich mich auf mein Rennvelo schwinge und über die flimmernde Strasse der gleissenden Sonne entgegen davondüse.
Der Pelikanbrunnen befindet sich in Zürich an der Regensbergstrasse 320. Die Pelikan-Plastik besteht aus Verzasca-Granit und wurde 1935 von Alfred Schuhmacher geschaffen. Selbst als Nichtraucher erwärmt der Geruch von Tabak immer noch das Herz des Autors – aus gutem Grund.
Spezialausgabe
Libell 25: so gesehen
Jonas Rippstein (1999*) lebt in Zürich. Er studiert im Master Kulturpublizistik an der Zürcher Hochschule der Künste und schreibt nebst Prosa- und Lyriktexten als freier Autor für diverse Kulturmagazine.