18 Haller
Kirchhof beim Grossmünster. Eine Stimme erhebt sich von unten: «Ich liege nicht einmal einen halben Meter unter der Pflasterung des Zwingliplatzes. Seit 500 Jahren schaue ich euch dabei zu, wie ihr konsequent wegschaut.»

Jeden Tag beobachte ich dich dabei, wie du über diesen Platz gehst. Wie du den Blick nach oben zu den Doppeltürmen richtest. Wie du das Licht siehst, dass durch das Giacometti-Fenster fällt und das bunte Spiel bewunderst. Wie du dein Handy zückst, ein Bild machst und die Nachrichten bemerkst, die deine Aufmerksamkeit an einen fernen Ort lenken, an den dir niemand folgen kann.
Du stolperst über einen lockeren Pflasterstein. Ein Fluchen. Du blickst nach unten, aber siehst mich nicht, gedenkst mir nicht. Mir, die da seit Jahrhunderten liegt.
Ich ruhe in der dunklen, feuchten Erde. Käfer und Maden interessieren sich nicht mehr für mich. Mein Fleisch ist längst verfault, abgenagt, zersetzt. Da sind nur noch meine gebrochenen Knochen und um mich die Gebeine anderer. Wir liegen mit dem Haupt nach Osten und nach Westen. Das soll Archäolog*innen, die uns nach fünf, sechs, sieben Jahrhunderten ausgraben, ratlos stimmen. Schliesslich entspricht das nicht dem Begräbnisritual, das ihr von uns zu kennen glaubt. Wer weiss, vielleicht haben wir uns einen Scherz erlaubt auf Kosten derer, die nach uns gekommen sind.
Ich liege nicht mal einen halben Meter unter den Steinen. Ich strecke meinen Arm aus und tippe von unten an die Pflasterung. Klopf, klopf. Hörst du mich?
Ihr habt uns zugedeckt, zugepflastert, vergessen. Nicht einmal das Grossmünster macht auf uns aufmerksam. Dabei liegen wir hier unten genauso lang wie die Türme in die Höhe ragen. Ich hingegen vergesse nichts.
Mein todtengreber hat seine Arbeit nicht gerade genau genommen. Es gab kein Verzeichnis, keine Grabsteine und er wusste nicht, wo bereits jemand lag. Ab und zu hat er einen alten Knochen, der beim Schaufeln im Weg war, über die Mauer des kilchhofs geworfen. Lange graben mochte er nicht, wahrscheinlich hatte er einen anstrengenden Tag hinter sich. Seine Aufmerksamkeit war fern, nicht bei der Erde und dem modrigen Geruch. Deshalb bin ich, wie andere auch, nach einer Weile wieder an die Oberfläche getreten. Noch einmal konnte ich das Sonnenlicht auf den letzten Hautfetzen und den Wind in den verbliebenen Haarsträhnen fühlen.
Andächtig war es hier nie, ganz anders als in den weitläufigen Gartenanlagen, in denen ihr heute eure Toten beisetzt. Meine Grabstätte war ein Ort, an dem das Leben stattgefunden hat. Die Menschen sind hier zum Markt gegangen, haben diskutiert und musiziert. Und manchmal haben sie Recht gesprochen, und Personen wie mir unfaire Prozesse gemacht. Übrigens schmeckte der Wein, der im bainhus mit all seinen aufgetürmten Schädeln und Knochen gelagert wurde, besser als das Gebräu, das du hier im Winter auf dem Weihnachtsmarkt trinkst.
Deine Blicke und Hände wandern. Ich sehe, was du tust. Klopf, klopf. Hörst du mich nicht?
Irgendwann wurden die bainhuser und damit auch das memento mori, ein Fingerzeig für unsere Sterblichkeit, eingestampft. Damit habt ihr vergessen, dass dieser Platz nachts uns gehörte. Bei Einbruch der Dunkelheit sind wir aus unseren Gräbern gestiegen, haben zur Musik des Windes und den Klängen der Stadt getanzt. An den Händen haltend im Kreis, haben wir getanzt und getanzt und getanzt.
Wir waren so lebendig, dass die Menschen dieser Stadt Angst vor uns hatten. Zu ihrem Schutz liessen sie Gitter im Boden des kilchhofs ein, damit wir diesen nicht verlassen konnten. beinbrecher.
Heute sind wir unter der Pflasterung nur noch tot. Dabei möchte ich tanzen – und mehr als nur Beine brechen.
Mach du ein paar Bewegungen für mich, du die da in Schlangenlinien wyfeücht über den Platz nach Hause gehst.
Während andere einen der begehrten Plätze im Inneren des Grossmünsters als letzten Ruheort erhalten haben, blieb uns hier draussen nichts anderes übrig, als auf die Segenswirkung der Reliquien im Grossmünster zu hoffen. Wir hofften auf Ablass unserer Sünden, auf eine verkürzte Zeit im Fegefeuer.
Doch wer kategorisiert uns als sündig? Wer wird bestraft? Tatsächlich die Schuldigen?
Ich habe Glück, dass ich im geweihten kilchhof liege. Wäre mein todtengreber aufmerksamer gewesen, hätte er mich vor der Mauer begraben. In der Erde, die keine Erlösung verspricht; neben Selbstmörder*innen und Verbrecher*innen.
Klopf, klopf. Ich sehe auch die Dinge, du die lieber nicht anschaust. Hör mir zu!
Zu Lebzeiten war ich verheiratet. Geliebt habe ich eine andere, unser Zusammensein war lebendig und zart. In den Augen meines Ehemanns war dies die grösstmögliche Verletzung seiner Ehre, versuchte ich mich doch seiner Verfügung zu entziehen. Er schlug auf mich ein – immer und immer wieder. Dann deponierte er mich auf der Strasse. Auf meinen leblosen Körper legte er ein paar Münzen. 18 Haller.
Wie die todschleg gebusd sollen werden, so einer den andern bi siner efrowen findt. Damals genügten 18 Haller für seine Läuterung. Ihr Männer habt eure Gesetze immer für euch gemacht – damals wie heute. Viel verändert hat sich nicht seit 1498. Noch immer ist die Schuld auf der falschen Seite. Noch immer deckt ihr euch gegenseitig. Noch immer tötet ihr uns, weil wir Frauen sind.
Ich schaue euch von hier unten zu. Klopf, klopf. Hört mich an!
Und ich warte, bis ihr einmal die Pflastersteine aufbrecht und irgendetwas sanieren müsst. Dann werde ich nachts aus meinem Grab steigen und tanzen, tanzen, tanzen. Dann werde ich euch wieder das Fürchten lernen, wenn ihr auf dem Heimweg über diesen Platz spaziert.
Und für einmal werden es nicht die Frauen sein, die Angst haben müssen.
Auf dem Kirchhof beim Grossmünster wurden bis 1790 Menschen beerdigt. Erst 1876 ist auf dem Gebiet des heutigen Zwingliplatzes und der Münsterterrasse die wohl älteste Begräbnisstätte der Stadt Zürich geräumt und eingeebnet worden.
Die Autorin hat eine Aversion gegen Glühwein, eine Faszination für vergessene Geschichten und das Gefühl der Wut.
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Libell 25: so gesehen
Paula Steck (1996*) lebt in Bern, ist Studentin des Master Kulturpublizistik an der ZHdK und arbeitet in der Kommunikation der Dampfzentrale Bern.