von Stefanie Ehrler und Hannah Grüninger —
Herr Puntas, Sie haben das Magazin «Reportagen» gegründet und sind heute Chefredaktor und Unternehmer. Wie sind Sie zum Journalismus gekommen?
Die ersten 27 Jahre meines Lebens habe ich nicht gelesen. Ausser die Zeitung «Sport». Ich arbeitete in der Finanzbranche im Marketing, hatte irgendwann genug, packte den Rucksack und ging. In Südamerika entdeckte ich Pablo Neruda. Mein erstes gutes Buch. An der Uni Fribourg studierte ich auf dem zweiten Bildungsweg deutsche und spanische Literatur. In einem Seminar über nichtfiktionale Literatur las ich eine Reportage und war begeistert. Ich interviewte Erwin Koch für eine Seminararbeit. Schon damals war er einer der Besten. Er erzählte mir fünf, sechs Stunden lang aus seinem Leben als Reporter und ich wusste: Das will ich auch.
Was begeistert Sie am Beruf des Reporters?
Als Reporter geht man raus und stellt Fragen. Dabei eröffnet sich einem eine Welt. Denn jeder hat eine Geschichte zu erzählen und jeder erzählt sie gern. Ich muss mich manchmal sogar bremsen, damit ich in den Ferien, wenn ich mit der Familie unterwegs bin, nur einen Kaffee bestelle und die Kellnerin nicht über ihr Leben ausfrage. Am liebsten würde ich einen Chefredaktor und einen Geschäftsführer anstellen. Wenn die Welt ideal wäre, könnte ich diese Aufgaben abgeben und selbst wieder Reporter sein. Durch den Kontakt mit vielen guten Schreiberinnen und Schreibern habe ich jedoch meine eigene Grenze kennengelernt. Ich bin nicht der beste Autor. Meine Stärke liegt im Erkennen, was gut ist und was nicht.
Direkt nach dem Studium sind Sie bei der NZZ am Sonntag Redaktor geworden.
Vieles war Zufall. Ich schickte einen Text an verschiedene Medien und erhielt zehn eindeutige Absagen. Als ich mich bereits damit abfinden wollte, Lehrer zu bleiben, schickte ich den Text der NZZ. Der Redaktorin, die für das Reportageformat «Zeitbilder» zuständig war, gefiel der Text. Meine Reportage wurde auf drei Seiten produziert – besser kann es nicht gehen.
Was fasziniert Sie an Reportagen?
Reportagen sind für mich die perfekte Fusion von Kunst und Realität. Einerseits sind sie Journalismus. Idealerweise – in der heutigen Zeit muss ich es so formulieren – stimmt alles, das Thema ist relevant und recherchiert. Andererseits ist eine Reportage ein Erzählstück, nicht nur ein funktionaler Text.
Apropos Geschichten: Während eines TED-Talks, der 2018 aufgenommen
wurde, trugen Sie ein T-Shirt, auf dem «Storytelling Animal» steht.
«Storytelling Animal» ist der Titel eines Buches von Jonathan Gottschall. Er vertritt die These, dass der Mensch ein erzählendes Tier ist. Stellen Sie sich zwei Steinzeitvölker vor. Beide haben dasselbe Leben: Sie verlassen am Morgen die Höhle, die Männer gehen jagen, die Frauen passen auf die Kinder auf und sammeln Beeren. Am Abend kehren die Männer zurück, alle sitzen gemeinsam um das Feuer, und nach dem Essen legen sie sich schlafen. Die Männer des einen Volkes kommen jedoch eine Stunde früher vom Jagen zurück und nach dem Essen bleibt Zeit, um am Lagerfeuer vom Tag zu erzählen. Welches der beiden Völker überlebt? Jenes, das eine Stunde länger produktiv ist? Oder jenes, das eine Stunde lang über das Erlebte spricht? Die Antwort ist klar: das Volk, das darüber spricht, weil es Erfahrungen austauscht, reflektiert, plant, sich erinnert. Zu erzählen und andere teilhaben zu lassen, ist die Urtätigkeit des Menschen.
Weshalb haben Sie sich entschieden, ein eigenes Magazin zu lancieren?
Mein Einstieg in den bezahlten Journalismus waren die Jahre als Redaktor bei der «NZZ am Sonntag». Vom feurigen Reporter wurde ich zum langweiligen Angestellten. Das eigene Magazin war mein Ausweg. Als freier Journalist hätte ich mit einer Familie nicht überleben können und PR kam nicht in Frage. Die Medienwelt war schon damals im Wandel und ich sah darin eine Riesenchance. Also schrieb ich einen Businessplan.
Wie finanziert sich das Magazin?
Es gibt den Weg, ein neues Magazin quasi ohne Kosten, mit Gratisarbeit von Freunden und Familie zu gründen. Ich bin nicht der Typ dazu. Ich wollte von Anfang an ein professionelles Produkt machen: Finanziert und mit anständigen Löhnen für alle. Nach zwei Monaten merkten wir, dass unser Plan zu optimistisch war. Wir träumten von 2000 Abonnenten und hatten einen Zehntel davon. Wir dachten, dass wir problemlos teure Inserate verkaufen könnten – keine Chance. Wir produzierten kostspielige Hörbücher, die sich aber niemand anhörte. In den ersten Jahren schrieben wir rote Zahlen und die Investoren trugen dieses Defizit.
Wer waren die Anfangsinvestoren?
Privatleute, die an unsere Idee glauben und einen langen Atem sowie die finanziellen Mittel haben, um zu helfen. Die muss man zuerst finden.
Wie sieht die finanzielle Lage momentan aus?
Wir schreiben seit wenigen Jahren eine schwarze Null. Abos, Werbeinserate, Verkauf von Einzelheften – das sind unsere drei Ertragspfeiler. Sie decken unsere Ausgaben, die Abos drei Viertel davon.
Wie viel Budget haben Sie eingeplant?
Eine Ausgabe kostet uns eine Viertelmillion Schweizer Franken. Da ist alles inklusive: Honorar, Druck, Vertrieb, Personal, Büroräumlichkeiten. Wir versuchen, einen Grossteil des Geldes in Autorenhonorare und die redaktionelle Arbeit zu investieren.
Wie viele Abonnent*innen hat «Reportagen»?
Bei der Gründung 2011 fingen wir mit 200 Abonnenten an, jetzt sind wir bei 11’500. Kennen Sie Sisyphos? Alle zwei Monate laufen Abos aus, die wir wieder reinholen müssen – und idealerweise noch ein paar mehr. Mit 15’000 Abos wären wir ökonomisch stabil aufgestellt und könnten Geld an die Investoren zurückzahlen.
Wie wollen Sie die Abozahlen erhöhen?
Der Plan ist seit acht Jahren derselbe. Wir vertrauen auf ein gutes Produkt und setzen auf Mund-zu-Mund-Propaganda.
Mit Interviews wie diesem machen Sie Marketing im weiteren Sinne.
Da kann ich nicht widersprechen. Ich musste sogar bremsen damit. Lesungen und Gespräche sind das beste Marketing, weil das Publikum etwas erfährt, das es nicht nachlesen kann. Zudem lernt es damit nicht nur das Magazin, sondern auch die Gesichter dahinter kennen. So gesehen besteht unser Marketing darin, dass wir zugänglich sind – unser Produkt lebt und ist real.
Wie haben sich die Werbeeinnahmen entwickelt?
Antizyklisch zur Gesamtbranche. Uns geht es besser als der Tagespresse. Die Werbeindustrie ist nicht auf uns angewiesen, wir sind ein «nice to have» für sie. Anfangs waren die Werbeeinnahmen klein, dann sind sie gewachsen und seither konstant geblieben.
Wie viele Einzelhefte verkaufen Sie pro Ausgabe im ganzen deutschsprachigen Raum?
2’500 bis 3’000. Das kann am Kiosk passieren, aber auch im Kitchener in Bern, einem Kleiderladen, der mehr «Reportagen» verkauft als die Buchhandlung gegenüber.
Ist das neu initiierte Reportagen-Festival ein Nebengeschäft?
Es ist kein Nebengeschäft, weil es kein Geschäft ist. An diesem Festival bieten wir dem Publikum und unseren Lesern ein Erlebnis, was natürlich ihre Beziehung zum Magazin vertieft. Neue Abonnenten haben wir durch die Veranstaltung keine gewonnen. Oder dann wissen wir es nicht.
Wie kommen Sie zu Autor*innen und zu Geschichten?
Der klassische Weg ist, dass wir einen Autor beauftragen. Wir erhalten auch sehr viele Angebote. Der Titel des Magazins löst bei jungen Journalisten im deutschsprachigen Raum den Traum aus, bei uns zu publizieren. Die meisten schicken ein Exposé. In der wöchentlichen Redaktionssitzung besprechen wir die eingegangenen Vorschläge. Natürlich haben wir unterschiedliche Meinungen, aber es gibt auch Ideen, von denen alle begeistert sind. Manchmal entscheide ich alleine. Eine weitere Quelle für Texte sind fremdsprachige Reportagen, die wir übersetzen lassen. «Erstmals auf Deutsch» ist unser Kriterium.
Wie lange dauert es von der ersten Idee bis zum fertigen Text?
Ein Jahr ist durchaus normal, aber es kann auch länger dauern. Es gibt Geschichten, die ich vor drei Jahren bestellt habe. Wir haben in unseren ersten 50 Ausgaben 319 Geschichten gemacht. Und alle sind unterschiedlich entstanden.
Mussten Sie jemals Texte ablehnen?
Ja, leider oft. Am schlimmsten sind Schriftsteller. Wenn sie nichtfiktional schreiben, tendieren sie dazu, nur noch Fakten aufzulisten. Es gibt auch Journalisten, die meinen, sie seien Hemingway. Andere schreiben genauso, wie man es an den Journalistenschulen lernt. Das ist furchtbar langweilig. Und dann gibt es jene, die zwar nicht schreiben können, aber etwas zu sagen haben. Das sind die Interessantesten. Der Text ist vielleicht nicht so gut geschrieben, und doch ist er packend.
Einem Interview konnten wir entnehmen, dass Sie stark in Texte eingreifen – und dabei auch gerne einmal die Schere zur Hand nehmen, die Reportage auseinanderschneiden und wieder neu zusammensetzen. Ist das nicht ein zu drastischer Eingriff, gerade weil Sie Transparenz und Wahrheit bei «Reportagen» gross schreiben?
Ich stehe zu jedem Satz, den ich gesagt habe, und kann das auch erklären. Ich habe fürs «GEO Magazin» eine Reportage gemacht über das Schiessen in der Schweiz. Der Redaktor fand den Einstieg langweilig und schrieb ihn neu, mit szenischen Elementen. Das geht natürlich nicht. Das meine ich nicht mit zerschneiden. Es geht mir um die Dramaturgie. Manchmal lese ich Texte, die als Rohversion bei mir eintreffen. Erst gegen den Schluss wird mir klar, weshalb ich die Geschichte überhaupt gelesen habe. Ich mache den Autor darauf aufmerksam, dass er das am Anfang bringen muss. Es ist ein gemeinsames Komponieren. Nichts ist erfunden und die Hoheit über den Text hat der Autor.
Die Frage der Autorschaft stellt sich trotzdem.
Jede Autorin und jeder Autor ist in grösserem oder kleinerem Ausmass auf ein Lektorat angewiesen. Auch bei den bekanntesten und gefeiertsten wie Sibylle Berg oder Lukas Bärfuss ist das so. Die Essenz ist von ihnen, doch die redigierende Person hat an der finalen Version ihren Anteil. Das ist in der Literatur wie auch im Sachbereich normal.
Die Texte in «Reportagen» wirken auf uns sehr geschliffen. Was ist die Motivation dahinter, den Text so stark zu überarbeiten?
Es geht darum, dass dem Autor irgendwann der Abstand zum eigenen Text abhanden kommt. Erwin Koch behandelt die fertiggeschriebene Reportage wie eine gute Wurst, die man aufhängt und fünf Tage abhangen lässt. Er schaut den Text mindestens eine Woche lang nicht an. Wenn er ihn nach Tagen wieder in die Finger nimmt, hat er den Blick des Lesers und nicht des Autors. Wer macht das heute noch? Niemand. Die Redaktion ist nichts anderes als der Versuch, mit unvoreingenommenen Leseraugen einen Text anzuschauen. Wir hübschen nicht auf, sondern verbessern. Ein Text ist nie fertig. Jede gute Reportage hat einen eigenen Sound – die Essenz zwischen den Zeilen, der Ton, der mitschwingt. Es darf nicht passieren, dass man das rausredigiert. Muss ich mein Verteidigungsplädoyer noch ausbauen? (lacht)
Lukas Bärfuss kritisiert mit seinem Essay «Hört auf mit euren Geschichten» das Storytelling im Journalismus. Er vertritt die Ansicht, dass Geschichten immer eine Erfindung sind – künstliche Gebilde.
Absoluter Blödsinn. Ich habe es ihm auch gesagt. Das sehe ich überhaupt nicht so. Jede journalistische Darstellung eines Auschnitts der Realität ist eine subjektive Interpretation desselben und dadurch auch eine Geschichte. Die Konsequenz von Lukas Bärfuss‘ provokanter Äusserung wäre, einfach eine Excel-Tabelle abzudrucken. Aber Storytelling bedeutet nicht, eine Geschichte zu erfinden, sondern die Realität in Form einer Geschichte zu erzählen.
Sie haben auch schon Reporterteams auf den Weg geschickt, was ein spannender Ansatz ist, um mehrere Blickwinkel zu haben. Arbeiten Sie oft so?
Viel zu selten. Sie sprechen sicher das Carrère-Stück an. Der Blutkoran. Emmanuel Carrère und Lucas Menget haben als Autorenteam recherchiert und diese Arbeitsweise im Text thematisiert. Der Mehrwert für den Leser besteht darin, dass er auf die Subjektivität der Sichtweise eines Autors hingewiesen wird. Ich war lange mit einem Fotografen unterwegs. Der Vorteil ist, dass man zwei unterschiedliche Weltsichten immer wieder abgleichen kann. Der Nachteil ist, dass ich schlussendlich mit ihm in der Beiz sitze und ein Bier trinke und nicht mit jemandem vor Ort.
Auch «Reportagen» hat mehrmals mit Claas Relotius zusammengearbeitet. Verhalten Sie sich anders, seit er aufgeflogen ist?
Seit Relotius fragen mich alle zum Thema Fact-Checking. Medienschaffende haben den Fall im Hinterkopf. Eine gewisse Skepsis tut gut, Misstrauen schadet aber. Die Schwierigkeit ist, dass Schlagwörter wie «Lügenpresse» und «Fake News», die nichts mit Relotius zu tun haben, in den gleichen Topf geworfen werden. Storytelling und Narrative seien per se schlecht. Für uns ist es ärgerlich, dass wir unser Leseversprechen nicht eingehalten und eine Geschichte präsentiert haben, die nicht wahr ist. Wir sind im Vertrauensbusiness tätig. Es braucht Zeit, das wieder aufzubauen.
Am Reportagen-Festival verleihen Sie den True-Story-Award. Heisst er immer noch so?
Er heisst genau so. Und der Name bleibt auch. Glücklicherweise haben wir den True-Story-Award vor dem Fall Relotius ins Leben gerufen. «True story» beinhaltet für uns keinen philosophischen Wahrheitsbegriff. Der Ausdruck steht im Englischen für Non-Fiction.
Sehen Sie nicht genau darin etwas Widersprüchliches? Geschichten und Wahrheit – das passt doch nicht zusammen. «True» ist ein sehr grosses und aufgeladenes Wort.
Der Amerikaner versteht «true story» anders als wir. Zudem ist Storytelling nicht Fiction. Dieser Vorwurf schwingt im Votum von Lukas Bärfuss mit: Sobald eine Geschichte erzählt wird, besteht die Tendenz, zu erfinden. Das ist einfach falsch. Mit einer Geschichte wird ein Ausschnitt der Wirklichkeit gezeigt. Aber natürlich gibt es unterschiedliche Blickwinkel auf diese Wirklichkeit.
Wieso nennen Sie den Award nicht einfach anders? Jeder Blick auf die Welt ist subjektiv, trotzdem verwenden Sie «true». Auch im englischen Sprachraum ist dieser Begriff nicht mehr unproblematisch.
Der Name des Awards ist auch Marketing. Es geht darum, weltweit Aufmerksamkeit von Reporterinnen und Reportern zu gewinnen. Mit dem True-Story-Award können sich viele identifizieren. Die präzise Bezeichnung wäre «Non-Fiction-Longform-Award». Reportagen werden durch eine Negierung definiert, sie sind nicht Fiktion. Das macht die ganze Diskussion so endlos.
Das Interview wurde am 8. November 2019 von Stefanie Ehrler und Hannah Grüninger im Kontext des Unterrichts des Master Kulturpublizistik geführt.