VON Karin Seiler
Sind Journalistinnen und Dokumentarfilmer die besseren Ermittler? Immer wieder tragen sie durch jahrelange Recherchearbeit zur Aufklärung von Justizirrtümern oder -versagen bei. Nachdem sich Robert Durst, der schwerreiche und des Mordes verdächtigte Protagonist der Doku-Serie „The Jinx“ in der vorletzten Folge aus Versehen selber schwer belastete und die Filmemacher zudem belastende Indizien zu Tage förderten, wird diese Frage in den Medien heiss diskutiert. Mit „The Jinx“ und „Serial“ bewegen zurzeit gleich zwei länger zurück liegende Mordfälle das amerikanische Publikum.
„Der Einfluss von Filmemachern und Journalisten auf die amerikanische Justiz erhält neue Dimensionen“, schreibt Andrea Köhler in der Neuen Zürcher Zeitung zu den Ereignissen rund um The Jinx und bezieht sich damit nicht nur auf das aktuelle Werk von Andrew Jarecki, sondern auch auf den Podcast Serial der Journalistin Sara Koenig. Dessen Erfolg lenkte die internationale Aufmerksamkeit auf den 1999 möglicherweise zu Unrecht wegen Mord verurteilten Adnan Syed.
Robert Durst wurde aufgrund des neuen Materials verhaftet und kann möglicherweise nach dreissig Jahren erstmals für den im Jahr 2000 begangenen Mord an seiner Bekannten Susan Berman angeklagt werden. Im Fall von Adnan Syed wird anlässlich eines – nur höchst selten bewilligten – Hearings entschieden werden, ob seine Anwälte – die einen direkten Einfluss des Serial-Podcast auf die Entscheidungen der Gerichte bestreiten – ein Wiederaufnahmeverfahren beantragen können.
Dass filmische Dokumentationen durch mit extremer Hartnäckigkeit und langem Atem betriebene Recherchen in Strafverfolgungsfällen zu neuen Einsichten führen und damit das juristische Geschehen beeinflussen, ist nicht neu. Der 1991 entstandene Dokumentarfilm The Thin Blue Line von Errol Morris untersuchte den Mord an einem Polizisten und etablierte dabei die heute häufig verwendete, auf Zeugenaussagen basierende filmische Rekonstruktion, das „reenactment“, als Stilmittel. Aufgrund der Aufmerksamkeit, die der Film – auch mit Hilfe eines dramatisierten Marketings (“Never has Miramax had a movie where a man’s life hangs in the balance“) – in der Öffentlichkeit erregte, wurde der zum Tod verurteilte Polizist später freigelassen. Der Film gilt in der Verbindung von sorgfältig recherchiertem Dokumentarfilm, elegantem Justizthriller und kritischer Gesellschaftsstudie heute als Klassiker und Wegbereiter des Genres „true-crime documentary“. Auch Filme wie The Staircase von Jean-Xavier de Lestrade (2004) – häufig als Inspirationsquelle für Serial genannt – oder die Paradise Lost-Trilogie von Joe Berlinger and Bruce Sinofsky (1996/ 2000/ 2011) hatten einen entscheidenden Einfluss auf das Schicksal ihrer Protagonisten und faszinierten auch deshalb ein breites Publikum.
Für die zumeist sozial benachteiligten Opfer von Fehlurteilen kann diese Form der engagierten Recherche und Erzählung den Unterschied zwischen Leben oder Tod, zwischen Freiheit und lebenslänglichem Gefängnis oder dem Vollzug des Todesurteils bedeuten. In den meisten Fällen geht es dabei – wie bei Adnan Syed – darum, aufgrund neuer Indizien einen neuen Prozess anzustrengen. Deliver Us from Evil (2006) von Amy J. Berg zeigt uns hingegen die Annäherung an einen privilegierten Täter wie Durst, der sich der Strafverfolgung erfolgreich entzieht. Der Film trug dazu bei, einen untergetauchten pädophilen Priester wieder in Haft zu bringen, und legte damit den Grundstein zur filmischen Dokumentation als neues „Vehikel der Strafverfolgung“ (Köhler).
Gemeinsam ist diesen Werken das persönliche Engagement ihrer Autoren. Sie nehmen im Verlauf der Geschichte eine klare Position gegenüber ihren Protagonisten ein – ob als Verteidiger oder, wie Berg und Jarecki, als hartnäckige Ankläger – und prangern damit ein von sozialen Vorurteilen gesteuertes und korrumpierbares Justizsystems an. Der Kampf gegen Vorurteile und soziale Ungerechtigkeit und das Aufdecken der Wahrheit, die Lust, den Dingen auf den Grund zu gehen, ist ein zentraler Antrieb einer Vielzahl von Dokumentaristinnen und Dokumentaristen und zugleich ein klassisches narratives Muster. Im Format der Serie findet dieses heute eine ideale Form, indem der Übergang zwischen Fernseherlebnis und Echtzeitgeschehen immer fliessender gestaltet wird und so dem Zuschauer unmittelbare Teilnahme am Geschehen suggeriert. Zugespitzt wird diese Strategie im Fall von The Jinx durch die zeitlich äusserst sorgfältig geplante Platzierung von ausserfilmischen Enthüllungen ebenso auf die Spitze getrieben wie durch die ambivalente innerfilmische Inszenierung einer neunjährigen Arbeitsbeziehung zwischen Autor und Protagonisten als Geschichte von Jäger und Gejagtem, von Katz und Maus.
Natürlich ist die Moment-Wirkung eines derart spektakulären True-Crime-Thrillers aufgrund der viralen Verbreitung immens. Der Eindruck einer neuen Dimension von Einflussnahme auf juristischer Ebene dürfte aber täuschen, bleiben derart dramatische Auswirkungen doch eher Einzelfälle. Dass wie im Fall von The Jinx nach neun Jahren sorgfältiger Recherche etwas Neues, bisher Unbekanntes ans Licht kommt, ist weniger erstaunlich als die Tatsache, dass dies als Sensation gehandelt wird und der Dokumentarfilm umgehend zum Medium und Mittel der Strafverfolgung stilisiert wird. Denn nur besessene Dokumentaristen setzen Jahre ihres Lebens ein, um auch ein weit zurückliegendes Geschehen nach der Wahrheit zu befragen. Angetrieben von der Leidenschaft für ihr Metier tun sie, wozu anderen unter zunehmend beschleunigten Arbeitsbedingungen die Zeit fehlt. Und sie sind rar.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.