Von Philipp Spillmann
Wieso befürworten Menschen die Todesstrafe? Weshalb hält die USA noch immer an ihr fest? Und warum werden in Texas die meisten Hinrichtungen des Landes durchgeführt? In einer Reportage der NZZ wird deutlich, dass Reportage etwas kann, was Debatten um das Recht und seine Grundlagen nicht können.
Wer auf der Webseite von Amnesty International nach Argumenten gegen die Todesstrafe sucht, findet ein ganzes Spektrum an Begründungen: pragmatische (»Die Todesstrafe verhindert keine Verbrechen«) ebenso wie moralische (»Es gibt keine humane Form der Todesstrafe«) oder politische (»Staaten befriedigen mit der Todesstrafe oft populistische Rachegelüste«). Alle basieren auf Forderungen, was Recht sein soll, ja muss, und was Unrecht ist. Zum Beispiel, dass Töten »niemals gerecht« sein kann. Oder, dass eine Strafe dem Bestraften die Möglichkeit lassen muss, »eine Tat durch Wiedergutmachung, Reue und Besserung zu sühnen«. Auch ein Argument wie »Die Todesstrafe verhindert keine Verbrechen« baut auf einer grundlegenden Vorstellung auf, was ein Rechtssystem sein und welchen Zweck es haben soll. Just diese Abhängigkeit macht die Argumente aber anfällig: Sie stehen und fallen mit den Überzeugungen, auf denen sie aufbauen und mit den Gesellschaften, in denen sich ihre Wirkung entfalten soll. Mit anderen Worten: Sie sind nicht universell, sondern kulturell. Sie sind nur so stark, wie die ihnen zugrunde liegenden Überzeugungen in der Gesellschaft verankert sind.
Nichtsdestotrotz gibt es eine Möglichkeit, die Todesstrafe abzulehnen, ohne auf bestimmten Rechtsvorstellungen aufzubauen. Die NZZ-Video-Reportage Leben und Tod in Texas skizziert diese Möglichkeit eindrücklich, indem sie sich der Problematik der Todesstrafe von der Seite der Verurteilten nähert. In fünf Kapiteln liest, hört und sieht man Geschichten von Mördern, Ermordeten und ihren Angehörigen.
Gedreht wurde die Reportage in Huntsville, Texas, einer kleinen Stadt mit kaum 38’000 Einwohnern, knapp 100 Kilometer nördlich von Houston. Sam Houston, der erste Präsident der Republik Texas, verbrachte hier seinen Lebensabend. Heute ist Huntsville bekannt als jener Ort, an dem die meisten Hinrichtungen in den ganzen USA stattfinden. Vollzogen werden die Tötungen in der »Huntsville Unit«, dem ältesten Staatsgefängnis in Texas, das wegen seiner hohen, rostroten Backsteinmauern auch »Walls Unit« genannt wird. Am 7. Dezember 1982 wurde hier die erste Giftspritze verabreicht. Dreissig Jahre später war es bereits die vierhunderteinundachtzigste.
Die Reportage behandelt ganz Verschiedenes. Neben Video-Interviews mit Betroffenen gibt es zahlreiche Fakten zur Todesstrafe und eine Beschreibung der Lage in Texas, dem US‑Bundeststaat, in dem fast die Hälfte aller bisherigen US-Todesurteile vollzogen wurden. Die Rechtfertigung der Todesstrafe wird nicht direkt angesprochen, rückt aber durch Erzählungen der Betroffenen ins Bild. Der Clou: Die Frage, wie man sie begründen oder wie man gegen sie argumentieren kann, rückt in den Hintergrund – vielmehr geht es um die Frage, ob man sie nachvollziehbar findet.
Die meisten Beteiligten lehnen die Todesstrafe ab. Auch manche, die auf der Opferseite stehen. Was sich die anderen von der Hinrichtung erhoffen, ist vor allem symbolischer Art: einen Schlusstrich zu ziehen und danach einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu können. Diese Vorstellung ist in den USA weit verbreitet, »Closure«, Abschliessen, nennt man den Prozess. Allerdings zweifeln nicht wenige daran: Linda White zum Beispiel, deren Tochter 1986 von drei Jugendlichen vergewaltigt und ermordet worden war, hält »Closure« für einen Mythos: »Darüber kommt man nicht hinweg. Es ist etwas, mit dem du zu leben lernst.«
Den Angehörigen der Opfer stellt die Reportage die Familien der Täter gegenüber, die durch das jahrelange Ausharren, Abwarten, Bangen und Abschiednehmen selbst zu Opfern werden. Damit gelingt es der NZZ, zu zeigen, dass die Todesstrafe auch deshalb ungerecht ist, weil sie diejenigen bestraft, die nichts dafür können. Und sie zeigt, wie man auf der Ebene der Empathie gegen die Todesstrafe argumentieren könnte: Wer den eigenen Schmerz anderen nicht zumuten will, muss gegen die Todesstrafe sein. Diese Überzeugung hat nichts mit der Frage zu tun, ob die Todesstrafe richtig, nützlich oder gerecht ist oder eben nicht, sondern nur mit der Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können. Vielleicht ist es das Schwächste aller Argumente. An jemandem, der seinen Schmerz anderen ebenso zumuten will, prallt es einfach ab. Dennoch, in den USA könnte es zur Abschaffung der Todesstrafe beitragen. Insbesondere wenn man bedenkt, dass eine Verurteilung selten Erleichterung bringt, sondern vor allem eines: noch mehr Schmerz.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.