Von Lena Rittmeyer
Viele Dokumentarfilme wollen unbekannte Seiten einer Musiklegende aufzeigen – so auch der neuste Film über Kurt Cobain. Das kann nur schiefgehen.
Wer war dieser Kurt Cobain wirklich, der sich mit 27 das Leben nahm? Seit dem Tod des Sängers und Gitarristen der Band Nirvana am 5. April 1994 gingen dieser Frage zahlreiche Dokumentarfilme nach. Ein weiterer erschien diesen Frühling, doch nicht irgendeiner. «Montage of Heck» beruht auf einem Auftrag der Witwe Courtney Love, Cobains Frau, an den Filmemacher Brett Morgen. Erstmals gewährte Love einem Filmteam Zugang zum privaten Archiv der Familie. «Montage of Heck», benannt nach einer Tape-Collage von Cobain, sei der beste Film über den Nirvana-Sänger, schrieb die «Zeit». «Einer der berührendsten und filmisch innovativsten Musikfilme seit Langem», befand «Spiegel Online». «Man sieht im Film keine Stimme einer Generation, sondern einen Menschen, einen Ehemann, einen Vater», schrieb der «Rolling Stone».
Cobain gilt bis heute als Ikone einer Musikbewegung und Jugendkultur. Er wuchs zu einer Zeit auf, in der der 40. US-Präsident Ronald Reagan die Vereinigten Staaten mit seiner Wirtschaftspolitik – drastischen Steuerkürzungen bei gleichzeitig immensen Rüstungsausgaben – in die Rezession führte. Zukunftsaussichten fielen für Jugendliche in den Achtzigerjahren in Amerika seit langem wieder trüb aus. Dies war der politische und soziale Nährboden für den Grunge, diesen gitarrenschweren Depressions-Rock aus dem Untergrund von Seattle. Cobain verkörperte die Haltung des Grunge wie kein Zweiter, und verhalf dem Musikstil zum kommerziellen Erfolg: 1992 verdrängten Nirvana Michael Jackson von der Spitze der US-amerikanischen Billboard-Charts.
Cobain, der heroinabhängig war, hätte an diesem Erfolg gelitten, heisst es aus seinem Umfeld. Und obwohl alles auf einen Suizid hinweist, ist sein Tod bis heute umrankt von Verschwörungstheorien. Dazu trugen auch einige Filme bei, etwa «Kurt & Courtney» (1998) oder «Soaked In Bleach» (2015), die Courtney Love für Cobains Tod verantwortlich machen. Handfeste Beweise fehlen bis heute. Die Mutmassungen über Cobains Biografie und Persönlichkeit aber rissen seither nicht mehr ab.
Der Regisseur erschafft das Idol
Was also blieb bisher ungesagt zur Legende Cobain? «Ich denke, Courtney Love wollte der Öffentlichkeit mitteilen, dass Cobain nicht nur Musiker, sondern auch Künstler war», sagte Morgen in einem Interview mit dem Magazin GQ. Also übergab Love den Schlüssel zum Familienarchiv an Morgen – angeblich nur mit der Anweisung: Mach einen Film daraus. Cobain habe sein Leben anhand von Audioaufzeichnungen, Fotos, Videos, Skizzen und Tagebucheinträgen eigenhändig dokumentiert, sagte Morgen zum «Rolling Stone». «Diesem Beispiel bin ich einfach gefolgt.»
Ähnlich wie ein Fan, der sich ein Bild seines Idols macht, schuf Morgen so die Figur Kurt Cobain. Diesen Vorgang hat Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen in seinem Theorieband «Über Pop-Musik» beschrieben. Der Pop-Rezipient fügt laut Diederichsen einzelne «indexikalische Komponenten» zu einem grossen Ganzen zusammen; er kumuliert Assoziationen und integriert Eindrücke in das Bild, das er vom Star hat. Der Fan ist es, der überhaupt erst einen Zusammenhang herstellt zwischen voneinander unabhängigen Elementen wie der Musik, Auftritten oder Videos seines Idols.
Eine Verknüpfung von Annahmen
Der Fan oder in diesem Fall eben der Regisseur. «Montage of Heck» ist eine sorgfältig und klug angefertigte Collage aus Zeichentrickfilm-Episoden, in Bewegung versetzte Skizzen auf Papier oder Interviews mit Angehörigen, Bandmitgliedern und Cobain selbst. Zwangsläufig ist es eine Sammlung mit Lücken. Doch indem Morgen einzelne Erinnerungsschnipsel miteinander verbindet, füllt er diese Lücken mit Interpretationen auf.
Ein Beispiel hierfür ist eine Szene aus einem Familienvideo. Man sieht Cobain als aufgewecktes Kleinkind herumrennen und in die Kamera strahlen. Dazu erzählt eine Stimme im Off, dass ihm seine Eltern wegen seiner Hyperaktivität Ritalin gegeben haben. Der Zuschauer ist nicht fähig, diesen Entscheid der Eltern zu beurteilen. Als einziger Anhaltspunkt hat er den reizenden kleinen Jungen im Video. Welche Rabeneltern würden diesen Sonnenschein ruhig stellen wollen? Hier der lebensfrohe Kurt, da die repressiven Eltern – dies ist die Folgerung, die man aus der Darstellung ableitet. Es ist eine Verknüpfung von Annahmen, die aber alle ins Narrativ dieses sensiblen, übertalentierten Jungen mit dem späteren Hang zur Selbstzerstörung passen.
«Kompletter Blödsinn»
Kritik an «Montage of Heck» kam kurz nach der Premiere des Filmes auch von Buzz Osborne, dem Gründer der Metalband The Melvins und ehemaligem Schulkameraden von Cobain. Osborne behauptete, 90% des Filmes seien kompletter Blödsinn. «Die Sache, die niemand versteht, ist: Cobain war ein Meister darin, Leute zu veräppeln», schrieb Osborne in einem Beitrag für das Online-Magazin «The Talkhouse». Praktisch keine einzige der Jugendgeschichten, die Cobain im Film auf Audioaufnahmen zum Besten gibt, sei wahr.
Wahr oder falsch können Fakten sein, einen Mythos wie denjenigen eines Stars aber definiert gerade seine Sagenhaftigkeit. Deshalb muss auch das Vorhaben scheitern, ihn mit dokumentarischen Mitteln zu erfassen. Insbesondere solange Archivmaterial und Interviews mit Angehörigen die einzigen Grundlagen für einen Filmemacher sind, die Lebensgeschichte eines Popmusikers nachzuerzählen und sich dieser nicht mehr selbst zum Gezeigten äussern kann. Zwar ist «Montage of Heck» ein Zeitdokument, weil der Film nie gesehenes Archivmaterial zeigt. Sobald Regisseur Morgen aber Zusammenhänge zwischen Fakten herstellt, gleicht er dem Pop-Rezipienten à la Diederichsen: Er füllt Leerstellen mit Projektionen aus und erschafft sich seinen Mythos.