Von Jacqueline Beck
Welchen Einfluss hat «Big Data» im Journalismus eigentlich auf die Art und Weise, wie wir auf die Welt blicken?
Diagramme und Bildsymbole werden in Zeitungen und Nachrichtensendungen bereits seit geraumer Zeit zur Veranschaulichung von Entwicklungen in Wirtschaft, Politik oder Demographie eingesetzt. Inzwischen hat die Visualisierung von Daten und deren journalistische Einbettung auf alle möglichen Gesellschafts- und Wissensbereiche übergegriffen. Die Bandbreite reicht von der Twitter-Fieberkurve zu den WM-Spielen über die Stadtkarte mit den gefährlichsten Ecken für Velofahrer bis hin zum animierten Zeitstrahl zu den Ereignissen im 1. Weltkrieg.
Der Trend heisst «Datenjournalismus» und bietet den Medien neue Möglichkeiten, komplexe Themen anschaulich zu vermitteln und die Leserschaft mit interaktiven und unterhaltenden Elementen an sich zu binden. Die Entwicklung von Programmen und Browsern, mittels deren sich grosse Datenmengen verarbeiten und visuell darstellen lassen, ist weit fortgeschritten. Die Branche hat auf den Umstand reagiert, dass heute weltweit ein enormer Fundus an Recherchematerial in Form von Dokumenten und Statistiken vorhanden und auch zunehmend öffentlich verfügbar ist.
Migration auf der Karte
Vorreiter in der Entwicklung datenjournalistischer Formate in der Schweiz ist die «Neue Zürcher Zeitung». Für ihre Beiträge in dem Bereich wurde die Traditionszeitung im Frühsommer mit dem «Data Journalism Award 2014» ausgezeichnet. Zwei NZZ-Datenjournalistinnen haben mit einer Gruppe internationaler Journalisten auch das ebenfalls mit einem Award prämierte Projekt «The Migrant Files» realisiert. Die Ende März 2014 veröffentlichte Datenbank versucht das Flüchtlingsdrama am Mittelmeer in Zahlen zu fassen.
Über 23’000 Migrantinnen und Migranten sind seit der Jahrhundertwende auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen. «The Migrant Files» zeigt die Unglücksfälle auf einer schwarzen Karte mit roten Punkten: «3840 Menschen starben hier zwischen 2000 und 2013», heisst es etwa beim Klick auf Lampedusa. Die Datenbank ermöglicht auch die Suche nach einzelnen Ländern, Aufnahmezentren oder Vorfällen und erfasst jeden einzelnen Todesfall als Steckbrief: «Datum: 15. Juni 2014. Beschreibung: Toter Körper eines Syrers an Bord eines Öltankers aus Kuwait, der mit 356 Migranten in Sizilien ankam. Breitengrad: 37,2.»
Nüchterne Fakten
Mit der erstmaligen Zusammenführung und Aufbereitung dieser Daten zeigt die Journalistengruppe, dass die Zahl der Toten an den befestigten Grenzen Europas weitaus grösser ist als bisher angenommen. Es gehört zur Aufgabe des Journalismus, solche Misststände aufzudecken und öffentlich zu machen. Prozesse und Zusammenhänge aber werden erst verständlich, wenn die dahinterstehenden politischen, wirtschaftlichen und menschlichen Handlungsweisen und Beweggründe nachvollziehbar sind (vgl. «Die Toten vor Europas Türen»).
Die banale Absolutheit von Zahlen birgt das Risiko der Entmenschlichung und vermag darüber hinwegzutäuschen, dass ihre Aussagekraft abhängig von der Erhebungsweise und Interpretation ist (vgl. «Daten einer Tragödie»). Statistiken tendieren zur Vereinfachung und machen den Einzelfall zur vernachlässigbaren Grösse. Erst in der Verbindung mit Emotionen entwickeln nüchterne Fakten ihre Anschlussfähigkeit beim Publikum.
Der italienische Journalist Gabriele del Grande – auf dessen Daten «The Migrant Files» unter anderem zurückgreift – berichtet mit seinem Projekt «Fortress Europe» seit mehreren Jahren in Form von Porträts, Reportagen, Video- und Bildbeiträgen über die menschlichen Tragödien hinter den Zahlen. Auch die NZZ würde gerne einen Augenzeugenbericht zum Thema verwirklichen. Doch zur Umsetzung ist man auf weitere Fördergelder für das Kooperationsprojekt angewiesen – und die stehen im Moment noch aus.
Multimedialer Mehrwert
Dass die Visualisierung von Daten in der Kombination mit weiteren journalistischen Formaten durchaus einen Mehrwert bietet, hat die NZZ mit ihrer im März 2013 publizierten Multimedia-Reportage „Keine Zeit für Wut“ bewiesen. Zwei Jahre nach der Katastrophe in Fukushima berichtete sie über vier persönliche Schicksale in der Krisenregion. Unter Einbezug von ästhetisch starken Bildern, kurzen Videosequenzen und sorgfältig ausgewählten grafischen Elementen entwickelt der Beitrag eine auf unterschiedliche Sinnesebenen wirkende Unmittelbarkeit und Nähe zu den porträtierten Personen. Besonders eindrücklich: Trockene Zahlen zur Strahlenbelastung wurden regelrecht fühlbar gemacht, indem sie als animierte Punkte in unterschiedlicher Dichte über den Bildschirm fliessen.
Es ist die Kombination vieler subjektiver Wahrnehmungen, die den umfassendsten Blick auf die Welt ermöglicht. Die Aufgabe des Journalismus bleibt es, sie zusammenzuführen und einzuordnen. Seine Herausforderung wird es sein, stets neue technische Möglichkeiten als Werkzeuge für die Recherche und Entwicklung innovativer Erzählformate zu nutzen.
Jacqueline Beck, Jahrgang 1985, hat Ethnologie und Medienwissenschaft an der Universität Basel studiert und 2014 den Master Art Education, Vertiefung Kulturpublizistik, an der Zürcher Hochschule der Künste abgeschlossen. Sie arbeitet als freie Journalistin in Basel mit einem Schwerpunkt auf gesellschaftliche, kulturelle und mediale Entwicklungen, Trends und Debatten.