Von Philipp Spillmann –
Keine Minute ist vergangen, da befand ich mich bereits in einer lebhaften Diskussion. Kaum hatte ich mich gesetzt, die kochend heisse Tasse 1-Dollar-Tee auf den kleinen Tisch gestellt, das gerade eben gekaufte Buch noch in der Hand, ungewiss, wie ich mich den Leuten hier annähern soll, war ich schon mitten drin: »Hey, darf ich dich was fragen? Wenn du einen Einhundertdollar-Schein auf der Strasse finden würdest, weisst du, genau vor deinen Füssen, und niemand sonst hätte ihn gesehen, würdest du ihn nehmen?« Die Frage kam von einem vielleicht 50-jährigen Mann, er sass mit einem sichtlich jüngeren und über die abrupte Wendung überraschten Gegenüber am Tisch neben mir. Der Jüngere wandte schweigend seinen Blick ab, der Ältere fixierte meinen. Sein cremefarbener Kragenpullover verhüllte den speckigen Hals fast vollständig und die dicken Gläser in seinem Brillengestell liessen die darunterliegenden Kulleraugen noch grösser wirken, als sie ohnehin schon waren. Er lächelte. Sein erwartungsvoller Blick verriet, dass er auf etwas Bestimmtes hinaus wollte: »Ich meine, c’mon, du würdest ihn nehmen, oder? Mann, ich kann dir sagen, ich würde es tun!«, schmetterte er energisch, aber freundlich in die Runde, in einem Ton, wie ihn nur jemand haben kann, der es einfach liebt, zu diskutieren. Sein Name war Sam, wie er gleich darauf nachlegte, er war zum ersten Mal hier und es schien so, als hätte er den idealen Ort für seine Leidenschaft gefunden.
Es war Dienstagnachmittag und wir sassen im Bluestockings, einem kleinen Kaffee Schrägstrich Buchladen für feministische Literatur an der 172 Allen Street, einer langen Strasse am Westrand der Lower East Side, Nähe Bowery, mitten in Manhattan. Draussen: eine dicht befahrene Strasse, der für New York typische, leicht kaputte Gehsteig und eine rote Bank vor dem Schaufenster, zu deren Füssen ein überquellender Aschenbecher die Tage bis zur nächsten Leerung zählte. Drinnen: eine lange Theke, an der neben Büchern vegane Cookies, Filterkaffee und Fairtrade-Tee verkauft werden, an der Fensterfront vier kleine Tische und im übrigen Raum bewegliche Regale voller Bücher, Hefte, Plakate und Postkarten. Ein hübscher kleiner Ort mit dem Charme eines Selfmade-Ladens, gegründet in den späten Neunzigern, als sich das umgebende Viertel noch mitten in der verzwickten Trennung von seiner dunklen Vergangenheit befand. Wo früher krude Gestalten an die abblätternden Fassaden zwielichtiger Geschäfte lehnten und sich nachts viele New Yorker gar nicht erst hinwagten, stehen heute Wifi-Kaffees und teure Boutiquen. Doch der Geist früherer Zeiten ist längst nicht ausgetrieben. Manche Häuserwände sind noch immer versprayt, Türen abgewetzt und zwischen hippen Pop-Up-Stores stehen einzelne Ramschläden, bröckelnde Bäckereien und vor sich hin lotternde Waschsalons. Und mittendrin, in unauffälligen weissen Buchstaben beschriftet, das Bluestockings, die einzige feministische Buchhandlung in ganz New York City.
Ein Nest für Paradiesvögel
Man kennt den Laden, aber er ist alles andere als ein Hauptquartier der feministischen Szene. Das hat weniger mit seiner Grösse oder Lage zu tun als damit, dass »die Szene« an sich nicht existiert. Zu verschieden sind die Anliegen, zu kontrovers die Meinungen und – was selten ausgesprochen wird – zu relevant inzwischen die Frage des Geldes, als dass ein Themenbuchladen mehr sein könnte, als ein Querschnitt durch den New Yorker Feminismus, ein stadtbekannter Treffpunkt, an dem ergraute Emanzen ihre Vorträge halten und junge Aktivisten sich während regnerischen Wochenenden den Kopf über den Neoliberalismus zerbrechen. Ein Rückzugsort, an dem Queers und Transsexuelle für ihre abendlichen Poetry-Slams zusammenfinden, auch ein Biotop für verwahrloste Nachbarn, Punks, Studenten und ein Aufenthaltsort für zufällig vorbeigelaufene Touristen, Typen in Anzügen und Mädchen mit schrillen Klamotten. Ein Ort, der, wie es auf einem Zettel an der Tür geschrieben steht, für alle offen ist – ausser für Rassisten und Sexisten. Ein Blick auf die Regale zeigt Sparten wie »Postcolonial Fiction« oder »Race Studies« gleich neben »Feminist Fiction« oder »Radical Education«, es gibt feministische Filmanalysen von schwarzen Autorinnen oder ethnografische Literatur zum Leben afroamerikanischer Lesben im 20. Jahrhundert.
Der Laden sieht sich als Nest für alle Arten politisch linksgesinnter Paradiesvögel. Dass die feministische Lektüre im Bluestockings an allen Enden ausfranst und nahtlos in Medientheorie, Politik und Kulturwissenschaften übergeht, hat damit viel zu tun. Von feministischen Schriften alleine könnte der Laden nicht leben. Neben dem Bluestockings gibt es in den USA knapp zwanzig weitere »Feminist Bookstores« und rund zwei Dutzend Verlage, die sich in die Sparte »Feminist Press« einordnen lassen. Praktisch keiner begrenzt sich auf das Kerngeschäft. Das Genre ist letztlich doch zu wenig gesucht. Trotz Medienhype, Vogue-Titelgeschichten, Beyoncé-Feminismus und Lena Dunham, trotz allen 35 Millionen Treffern, die Google beim Stichwort »Feminism« ausspuckt. Zwar gibt es heute mehr feministische Literatur denn je, und die Bücher von Stars wie Bell Hooks oder Judith Butler erscheinen bei namhaften Verlagen wie Routledge und Harper Collins oder gleich als E-Books bei Amazon, aber nur die Bekanntesten schaffen es bis in die Regale von Buchladenketten wie »Barnes & Noble« oder Buchhandel-Grosskonzerne wie »Strand Books« in New York.
Auch jenseits der vollgestopften Regale des Bluestockings ist es schwierig geworden, zwischen feministischer Literatur und verwandten Gattungen klar zu unterscheiden. Nicht nur, weil viele Autorinnen und Autoren feministischer Bücher auch in anderen Genres schreiben. Vielmehr sickert der Feminismus in fast alle Bereiche der Gesellschaft ein. Das beginnt bei Professorinnen wie Judith Butler, die in Berkeley einen Lehrstuhl für Literaturwissenschaften innehat, aber auch Vorlesungen zu Gender-Studies hält, und geht bis zu Modeblogs, die über queere Looks schreiben. An manchen Universitäten nennt man diesen aufgeweichten Status Quo »Postfeminismus«, eine Art Feminismus ohne Feminismus. Oft kursiert der Begriff auch als Etikett für die Queer-Theorie, eine Theorieströmung, die sich anfangs der 1990er Jahre schlagartig verbreitete und den akademischen Mainstream innert weniger Jahre von Grund auf veränderte. Damals, nur wenige Monate bevor mit dem Ende des Kalten Kriegs die Front zwischen Ost und West zerbrach, schrieb eine noch relativ unbekannte Philosophin aus Cleveland, Ohio davon, dass auch die Grenzlinie zwischen den beiden Geschlechtern nichts weiter sei als ein gesellschaftliches Konstrukt. Folglich musste ein Feminismus, der sich nur darum bemüht, Frauen zu befreien, zwangsläufig selbst zur Unterdrückung führen.
LÄDY
Sam war wie ich zum ersten Mal in der Stadt und fasziniert von dem regen Treiben, das hier herrscht. Sein Freund Michael, halb Japaner, halb New Yorker, ein schlanker Typ mit hohen Wangenknochen, langem, schwarzem Haar und um einiges schweigsamer als seine lautstarke Begleitung, verbringt ab und an seine freien Tage hier. Er mag die Ruhe an diesem Ort, und dass sich immer irgendein ein nettes Gespräch ergibt. Zwar kannte er von den Leuten, die jetzt, an diesem wolkigen Aprilnachmittag, hier waren, niemanden – aber das sei eigentlich kein Problem. Viele kämen hierher, um auf ein paar Gleichgesinnte zu treffen. Er selbst ist weder bekennender Feminist noch Aktivist, mit einem gewissen Hang zur Linken, aber nicht unbedingt ein Fan von Hillary Clinton, der durchaus beliebten Ex-Senatorin des Bundesstaates New York, grundsätzlich doch eher der gemässigte Typ; was hier auch kein Problem sei, höchstens wenn man mal auf ein paar richtig Eingefleischten trifft.
Michael ist hier schon manchen begegnet, die schnell einschnappen, wenn man bei gewissen Diskussionen das Falsche sagt. Aber die seien eher selten, Idioten gäbe es schliesslich überall. Auch unser Gespräch kam irgendwann beim Thema Diskriminierung an. Natürlich nicht, ohne dass Sam in Zwischenzeit drei weitere Leute von den Nebentischen in sein Streitgespräch hereingeholt hätte. Besonders angetan hatte es ihm eine 34-jährige, leicht übergewichtige Frau mit einer wummernden Stimme, dicken Krauslocken und einem weissen Wollpullover, auf dem in grossen pinken Lettern ihr Name – LÄDY – buchstabiert war. Ihren richtigen Namen wollte sie nicht verraten, dafür aber erklärte sie stolz, wie sie die deutschen Umlaute in die New Yorker Subkultur gebracht habe. Zwar sprach sie ihrem Bekunden nach kein Wort Deutsch, und Michael hegte ernste Zweifel an der Tragweite ihrer Geste, aber der Trend schien sich ohnehin gerade durchzusetzen.
Lädy genoss es, Sam herauszufordern: »Das Schlechte, das dem Einen wiederfährt, ist das Gute für den Anderen«, konterte sie schliesslich dessen rastlosen Versuche von, sie zu einem moralischen Bekenntnis zu bewegen. Doch Sam kam gerade erst in Fahrt. Endlich hatte er die Diskussion, die ihm vorschwebte. Das Gute, das Böse und Gott höchstpersönlich. Sam setzte zu einer Rede an, wie sie kein Priester besser gehalten hätte. Aber kaum hatte er richtig ausgeholt, wurde er abrupt unterbrochen. » Würdest du, wenn uns die Weissen nie hierher gebracht und uns ihre Kultur aufgedrängt hätten, tatsächlich an diesen Gott glauben?« Es die selbstbewusste Stimme von Nubia, die Sam zum Schweigen brachte. Nubia, eine Schülerin aus Brooklyn mit Lederjacke und einem gewaltigen Afro, der von der Mitte ihrer Stirn aus nach beiden Seiten auseinanderstrebte, sass mit ihrem hamsterbackigen Freund Nacir am Tisch von Lädy, ohne bisher einen einzigen Laut von sich gegeben zu haben. Sam war baff. Wie sie, ihr Freund und Lädy war er Afroamerikaner. Und wie sie wusste er Einiges zu erzählen, was er schon an Rassismus erlebt hatte. Aber im Unterschied zu ihr hat er seinen Frust mitsamt seinen harten Zeiten, auf die er oft zurückkam, aber auf die er nicht näher eingehen wollte, längst hinter sich gelassen – dank seines Glaubens an das Gute und dem Mantra, dass nur eine positive Einstellung zu einer positiven Zukunft führt.
Rassendiskriminierung ist in den USA nach wie vor ein Thema. Alle paar Monate wird ein afroamerikanischer Jugendlicher von weissen Polizisten niedergeknüppelt oder ein durchgeknallter Fanatiker ballert mit seiner Shotgun in einem schwarzen Viertel los. Es ist aber nicht nur die Gewalt gegen Schwarze, die eine Mittelschichts-New-Yorkerin wie Nubia bewegt. Auch die Tag für Tag sich aufhäufenden Sprüche und Blicke bringen sie in Rage. »Gerade letzte Woche in einem Einkaufszentrum, als ich meinen Schal in meine Tasche packte, warf mir eine alte Frau einen Blick zu, der abschätzig sagte: ich weiss genau, dass der nicht dir gehört.« Ihre anfangs ruhige Stimme bebte. »Das Krasse ist, dass wir immer noch wie eine Minderheit behandelt werden, obwohl wir längst keine Minderheit mehr sind.« Stilles Kopfnicken machte sich in der Runde breit. Von den Regalen schielten ein, zwei Leute herüber, ohne sich aber einzumischen. Ein hageres, kahles Mädchen runzelte streng die Stirn, um aber gleich wieder in ihrem Buch weiterzublättern. Der dicke Typ mit dem Star-Wars-Shirt am Tisch rechts neben mir räusperte sich kurz. Vielleicht lag das aber auch am steinharten Cookie, an dem er sich bereits seit einer guten Viertelstunde abmühte.
DIY-Feminismus
Als Judith Butlers revolutionäres Werk „Gender Trouble“ 1990 bei Routledge in New York erschien, braute sich auf der anderen Seite des Kontinents, im Städtchen Olympia im Bundesstaat Washington, bereits eine Bewegung zusammen, die später als »Dritte Welle« in die Geschichte des Feminismus eingehen sollte. Während die Protagonistinnen der zweiten Welle nach und nach ergrauten, ging eine von Punk, Grunge und Raves geprägte Generation daran, aus den verschrotteten Resten der vergangenen zwei Jahrzehnte eine neue Subkultur zu basteln. In verrauchten Klubs und verramschten Garagen sangen lautstarke Frauenbands wie Riot Grrrl, Le Tigre oder Bikini Kill davon, auf die Männer zu pfeifen, während sie zwischen den Songs die Mädchen dazu aufforderten, sich vorzudrängeln und so wild und unweiblich zu tanzen, wie es nur geht. Zines, Fanzines, Musik und Indie-Look: In den Subkulturen der frühen Neunziger brodelte ein DIY-Feminismus, für den Gender-Konventionen überflüssig, obszön geschmiertes Make-Up ein Stilmittel und Selbstbestimmung alles war.
Es vergingen keine drei Jahre, bis die Grrl-Bewegung zum internationalen Kult ausartete. Während sich schon Mitte der Neunziger die ersten Grrl-Bands auflösten, wurde dieser neue, aus den Subkulturen ausbrechende und von den Universitäten abgesegnete Feminismus mitsamt seinen Ikonen zu einem Massenphänomen. Auf die Grrrl-Bewegung folgten die Girlies: poppige Girlgroups wie die Spice Girls oder Tic Tac Toe, die jetzt nicht Teenager zum Schlagzeug spielen ermutigten, sondern zwölfjährige Mädchen dazu bewegten, sich den Bauchnabel piercen zu lassen. Die »Girlpower« kam allerdings nicht aus den Bandkellern der Kleinstädte, sondern direkt von den Charts auf die flippigen Mattscheiben von MTV und VIVA. Spaghettiträger, Leopardenjacken, Neonleggins, Glitzerpumps, silberner Lippenstift: Womit man in den Technokellern der frühen Neunziger noch grenzenlose Liebe zelebrierte, wurde an der Jahrtausendwende zum kommerzialisierten Konventionenbruch. Und während Künstlerinnen wie Jenny Saville mit fleischig queeren Körperbildern der Durchbruch gelang und Marylin Manson Metalheads weltweit dazu brachte, Lidschatten und Eyeliner aufzutragen, feierten die Laufstege in New York, London, Mailand und Paris androgyne »Heroin-Chic«-Models wie Kate Moss.
Als die totgehypten Auswüchse der Subkulturen nach und nach im Mainstream versumpften, formierte sich ein neuer, mit Zines und Magazinen aufquellender Feminismus, der die massenmediale Verwertung sexueller Identitäten zum kulturellen Schlachtfeld kürte. 1993 gründeten Debbie Stoller, Laurene Henzel und Marcelle Karp, drei junge Frauen aus der Medienbranche, die sich bei einem Geschäftstreffen kennen gelernt hatten, die New Yorker Frauenzeitschrift »BUST«. Frustriert von den Frauenbildern der Hochglanzzeitschriften entschlossen sie sich, ein Heft zu gründen, das über Girlies, Sex und Mode berichtete, ohne in sexistische Rollenbilder zurückzufallen. Was anfänglich als 30-seitiges Zine mit einer Auflage von 500 Exemplaren begann, war gegen Ende des Jahrzehnts bereits ein 100-seitiges Glossy mit 35’000 Leserinnen im ganzen Land. Tendenz stark steigend. 1996 folgte die Gründung von »Bitch: Feminist Response to Pop Culture«. Das Magazin wurde von Lisa Jervis und Andi Zeisler, zwei High-School-Freundinnen, die zuvor beide beim Indie-Szeneblatt »Sassy« gearbeitet hatten, als Zine gestartet und ist heute der wahrscheinlich bekannteste feministische Printittel weltweit.
Während Zeitschriften wie Bitch und BUST zu Ikonen wurden und ihre Gründerinnen, wie Debbie Stoller, zu Bestseller-Autorinnen, begann auch die Theorie immer intensiver popkulturelle Frauenfiguren zu studieren. Die TV-Serie »Buffy die Vampirjägerin« brachte es sogar zu einem eigenen Forschungsfeld: den »Buffy Studies«. 1999 dann, mitten in dieser von Neudeutungen ergriffenen, nach feministischer Literatur hungernden Zeit, beschloss die 23-jährige College-Absolventin Kathryn Welsh, die gerade erst nach New York gezogen war, mit ihren frisch geerbten 15’000 Dollar in der Tasche und einer Hand voll Freiwilligen an der Seite eine Buchhandlung zu eröffnen, die all das zusammenführen sollte, was sich in den letzten Jahren ereignet hatte.
Vom »Womens Bookstore« zum »Radical Bookstore«
Zwei Jahre später war wieder alles anders. Als in den Monaten nach dem elften Septemer fast überall in der Umgebung die Verkäufe einbrachen, stand das Bluestockings kurz vor dem Aus. Manche mieden die Gegend, andere wollten weg. Wie man von Leuten erfahren kann, die schon damals im Bluestockings verkehrten, versumpften die Abende mehr und mehr in kreisenden Diskussionen und verödeten die Tage in zähen, besucherlosen Schichten. Als sich das Gründungskollektiv Ende 2002 auflöste, blieben der Ladenmieterin Kathryn Welsh nicht viel mehr als ein paar kaputte Freundschaften, ein leeres Ladengeschoss und eine noch leerere Brieftasche.
Im Januar 2003 schrieb Welsh den kleinen Laden, der damals kaum einen Drittel so gross wie heute war, zum Verkauf aus. Als es schon so aussah, als seien die Tage des Bluestockings endgültig gezählt und lokale Szeneblätter begannen, über seinen Niedergang zu schreiben, wandten sich zwei junge Frauen an Welsh, die das ausgediente Geschäft übernehmen wollten: Die Künstlerin Hitomi Matarese und die Aktivistin Brooke Lehman, eine junge Anarchistin, die ihre Zwanziger damit verbracht hatte, politische Protestmärsche zu organisieren und die 1999 Mitgründerin der radikalen Antiglobalisierungsgruppe »Direct Action Network« gewesen war. Zusammen mit vier Gleichgesinnten aus ihrem Bekanntenkreis begannen Lehman und Matarese, das Bluestockings nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Der Name, der auf einen von Frauen geführten englischen Debattiersalon aus dem 18. Jahrhundert zurückgeht, wurde beibehalten, die Unterzeile von »Womens Bookstore« in »Radical Bookstore« abgeändert. Es wurde kräftig ausgemistet, renoviert und eingerichtet, ein neues Credo formuliert und jede Menge Volontäre angeworben. Heute arbeiten hier etwa neunzig Freiwillige aus allen Ecken der Stadt, vorwiegend Studenten, aber auch Schüler aus der Umgebung oder eingefleischte Betriebsoriginale.
Auch an diesem schläfrigen Dienstagnachmittag gingen die Volontäre ein und aus. Einige kamen mit Freunden, mit denen sie zwischen kurzen Einsätzen an den Tischen beisammen sassen. Andere standen hinter der Theke, warteten auf Bestellungen oder waren in ihr eigenes Gespräch vertieft. Während Nubia, Sam und Lädy beim Thema Occupy ankamen, Nacir sich kurz entschuldigte, um im 24-Stunden-Imbiss um die Ecke einen Burger zu holen und Michael nachdenklich in die Runde starrte, liess das Treiben im Laden langsam nach. Leute, die noch hereinkamen, stöberten in den Regalen oder sagten Bekannten auf dem Nachhauseweg kurz Hallo. Ein lesbisches Pärchen anfangs Zwanzig legte einen Stapel Flugblätter am Tresen auf. Eine schwarz gekleidete Frau mit Sonnenbrille, Federhut und violetten Nägeln wollte ihr Buch verkaufen. Draussen sass Bob, rauchte Kette und trank Kaffee aus seinem Becher, den er im Viertelstundentakt nachfüllen liess. Seine Brillengläser waren schon etwas angekratzt und die schwarzen Stiefel an seinen Füssen eigneten sich perfekt, um jeder noch so eilig fortgeworfenen Zigarette die Glut auszupressen. Bob kommt praktisch täglich hierher.
Als Chanel, Bluestockings-Urgestein mit Stahlkappenschuhen, gegen 17 Uhr mit ihrer Schicht begann, waren Sam und Michael und die meisten Aushilfen gegangen. Von der Spätschicht war einzig Zeal schon da, ein 23-jähriger Politikstudent mit weichem Kinn und dunklen Mandelaugen, die ihn dem Slumdog Millionaire-Hauptdarsteller Dev Patel zum Verwechseln ähnlich sehen lassen. Während Zeal draussen die letzten Volontäre vom Nachmittag verabschiedete, begann Chanel mit den Buchbestellungen. Ähnlich wie Zeal kam auch sie zuerst nur als Besucherin hierher, bevor sie an einem langen Novemberabend für eine kranke Freundin an der Theke einsprang. Inzwischen liegt sie bezüglich Dienstalter auf Platz zwei. Seit Brooke Lehman das Bluestockings verlassen hat, ist sie auch fester Bestandteil der basisdemokratischen Geschäftsleitung und zuständig für das Sortiment. »Die Grossbuchhändler machen uns keine Probleme«, erklärte sie schulterzuckend, während sie sich die langen, kastanienbraunen Haare hinter den Schulterriehmen ihrer abgewetzten Jeansjacke zusammenband. Dann murmelte sie: »Aber oft kann man das alles gar nicht mehr klar unterscheiden.«
BUST, Bitch und die anderen Frauenmagazine, die im Bluestockings aufliegen, blieben an diesem Nachmittag völlig unberührt. Lädy kannte die Zeitschriften gar nicht erst. Für Nubia waren sie zwar durchaus ein Begriff, aber sie liest viel lieber die Posts von jungen Bloggerinnen, scrollt durch deren Instagram-Accounts oder klickt auf die Links, die diese auf Facebook teilen. Dort nennt sie sich Susie Carmichael, wie sie bei ihrem Abschied noch einschob. Zwar änderte das alle paar Monate wieder, aber der Zweitname »Radical Womanist Intersectional Feminist«, der bleibe.
Das »Girl Wide Web«
Auch BUST und Bitch haben Twitterprofile und Facebookseiten, die sie täglich mit neuen Beiträgen füllen. BUST kommt bei Facebook bereits auf über siebzigtausend, Bitch sogar auf zweihunderttausend Likes. Beide Magazine bloggen schon jahrelang auf ihren Webseiten, haben Online-Redaktionen, Online-Content und eine digitale Agenda. Bitch bietet ein wöchentliches Email-Abo für »feministische News« an. BUST führt sogar ein eigenes feministisches Online-Lexikon mit über zehntausend Einträgen, das »Girl Wide Web«.
Seit in den späten Nullerjahren Internet-Start-ups wie Tumblr oder WordPress jedem die Möglichkeit eröffnet haben, auf ihren Plattformen einen eigenen Blog zu starten, ist der Kosmos der feministischen Medien explodiert. Webseiten wie Jezebel oder Feministing wurden innert weniger Jahre zu Web-Unternehmen mit Dutzenden von Angestellten, Aktivistengruppen wie Femen, Hollaback und Pussy Riot dank den sozialen Medien über Nacht berühmt.
Mit dem Internet trat auch eine Generation von Feministinnen ins Rampenlicht, die Kapitalismus und Kommerz nicht zähnefletschend ablehnten, sondern einer leidenschaftlichen Lektüre unterzogen: feministisch gesinnte Fashionbloggerinnen wie Tavi Gevinson oder Leandra Medine schrieben über Catwalks, Teenie-Pop und Hollywoodstars, erhielten Einladungen zu pompösen Fashion-Shows und wurden in Zeitschriften wie der Vogue oder The New Yorker diskutiert. »Tavi«, ein 19-jähriger Mode-Nerd mit grünen Feenaugen und kurzen blonden Haaren, die sie für ihren »Granny Look« jahrelang grau gefärbt hatte, begann bereits mit elf Jahren mit »thestylerookie.com«. Das war 2008. Die Seite war bald so beliebt, dass sich Modestars wie Karl Lagerfeld oder Alexander Wang mit ihrer kurligen Urheberin ablichten liessen. Tavi schrieb für Harper‘s Bazaar und Jezebel und hielt TED-Talks über junge Frauen und Feminismus. 2011 gründete sie »Rookie«, ein Online-Magazin für Teenager-Mädchen, das bereits nach der ersten Woche eine Million Klicks verzeichnete. Inzwischen schreiben über neunzig Autorinnen bei Rookie, die wenigsten sind älter als 22 Jahre.
Die meisten »Rookies« haben ihre eigenen Blogs, Webseiten oder zumindest ein Instagram- oder Twitterprofil. Einige sind nicht weniger erfolgreich als ihre Redaktionschefin. Rookie-Editorinnen wie Jamia Wilson oder Hazel Cills schreiben für Medien wie die LA Times, Rolling Stone oder The Huffington Post. Petra Collins, ehemalige Assistentin des Star-Fotografen Richard Kern und Tavis‘Ex-Mitbewohnerin, schiesst Fotos für i-D, Dazed und Garage. Ihre Bilder wurden an der Art Basel Miami ausgestellt und das von ihr gegründete feministische Künstlerkollektiv »The Ardorous« frisst sich mit zart getönten Bildern behaarter Nippel und blutbefleckter Slips durch die Aufmerksamkeitsblasen der sozialen Netzwerke. Wie all die anderen rigoros auf den Feminismus aufgesprungenen Feuilletonisten, Kolumnisten, Entertainer und Superstars haben die Mädchen von Rookie begriffen, was man im Bluestockings nur verächtlich von der Hand weist: Der Feminismus ist ein rentables Geschäft geworden, um das Tageszeitungen, TV-Produzenten, Modelabels, Musikplattformen und Künstler buhlen; ein eigener Wirtschaftszweig mit einer klaren Agenda, einem gewaltigen Absatzmarkt und einer weltweiten Reichweite.
Im Gegensatz zur Kommerzialisierungswelle der Neunziger werden jetzt weniger Rollenbilder und Gender-Identitäten verkauft, sondern der Feminismus als Ideologie. Es geht darum, symbolisches Terrain zu besetzen, ein Image aufzubauen, die richtige Web-Öffentlichkeit zu adressieren. Im Vordergrund steht allerdings die Vermarktung von Ideen, weniger der maximale Profit. Kaum ein feministisches Online-Medium führt auf seiner Webseite Werbung. Selbst i-D und Dazed bleiben bei der Printwerbung. Auch Rookie bleibt komplett werbefrei. Trotzdem steht das jährlich herausgegebene »Rookie Yearbook« nicht in den Regalen des Bluestockings, dafür aber prominent im Obergeschoss von Strand Books. Für Chanel, die zwar grummelnd zugibt, ein Konto bei Facebook zu haben, und ziemlich froh ist, die Socialmedia-Seiten des Bluestockings nicht betreuen zu müssen, ist Tavi einfach zu kommerziell. Es gibt andere Blogs, die ihr besser gefallen – auch solche, die auf Facebook nicht zu finden sind.
Nebst Medientsunamis wie Rookie, Bitch und Jezebel spülte das Web 2.0 alle möglichen Blogs an seine digitalen Strände, von rustikalen Seiten wie »BitchSandwich«, die sexistische Twitterkommentare sammelt, bis zu kolumnistischen Tumblr-Sites wie »Eschergirls«, der Frauenbilder in Videospielen ins Visier nimmt. Neben Buchhandlungen, Kunsträumen und Szenebars ist es heute vor allem das Internet, in dem der subkulturelle Feminismus seine Ranken treibt. Mit Tumblr, Facebook und Photoshop blühten auch die Zines von neuem auf. »Polyester«, »Skin & Blister«, »Diaspora Drama«, »Oomk«, »Girls Get Busy«: trashige kleine Publikationen, die auf pinken oder lila pulsierenden Blogs präsentiert werden. Manche erscheinen nur noch digital als E-Zines, viele werden aber nach wie vor gedruckt. Auch sie haben ihr digitales Publikum, ihre Netzcommunity und Festivals, bei denen man sich per Facebook anmelden kann. Eines der Neusten ist das New Yorker »Feminist Zine Fest«. Es wurde im März 2015 zum dritten Mal veranstaltet, unter anderem auch im Bluestockings, zusammen mit der vierköpfigen Eventgruppe, zu der auch Chanel gehört.
»Ich liebe alle Menschen«
Inzwischen war es halb sieben. Draussen setzte bereits die Dämmerung ein. Im Bluestockings stand, wie an jedem letzten Dienstagabend des Monats, »Women’s / Trans’ Poetry Jam & Open Mic« auf dem Programm, für das auch Lädy hergekommen war. Im Gegensatz zur vehementen Smartphoneverweigerin Chanel ist Lädy von den sozialen Medien ziemlich begeistert. Sie hat einen eigenen Blog und gleich drei Facebook-Seiten: Eine private mit ihrem richtigen Namen, den sie nach wie vor für sich behielt, eine Lädy-Fanseite und eine Fanseite ihres Tumblrs »Undr1roof.com«. »Aber der Blog ist eigentlich mehr eine Art Online-Galerie meines Kunstraums in der Bronx«, so die wuchtige Selfmade-Unternehmerin, die gerade mit ihrem dritten Kaffee von der Theke zurückgekehrt war, wo sie eine sichtlich erleichterte Chanel hinterlassen hatte. Während Lädy mit fuchtelnden Händen von ihrem geheimen, vorerst noch geplanten Onlinemagazin schwärmte, begann Zeal bereits damit, die ersten Regale an die Wände zu schieben.
Langsam kehrte wieder mehr Leben in den Laden ein. Ein Mikrofon wurde aufgebaut und rund dreissig Stühle aufgestellt, auf denen sich die Besucher verteilten. Dan, ein schüchterner Transvestit anfangs zwanzig, dem die Hormontherapie noch in das geschwollene Gesicht geschrieben stand, testete fast flüsternd das Mikrofon. Am Tresen sprach sich Chanel mit der grau gelockten Sandra ab. Sandra, in blauer Strickjacke, weiten Hosen und mit Gehstock, war Veranstalterin des heutigen Jams. Früher, als sie noch auf die Strasse ging, war sie Schriftstellerin. Heute schreibt sie immer noch, aber eher für sich und für Abende wie diese. Gehen kann sie nur im Schildkrötentempo. Als sie kurz nach 19 Uhr vor das Publikum trat, um den Ablauf des Abends zu erläutern und die Gelegenheit zu nutzen, in kurzen, klaren Sätzen ein kleines Plädoyer für unabhängige Buchläden zu halten, über Ginsberg und den Sinn des Schreibens, bat sie darum, dass die Slammerinnen ihr letztes Stück ankündigen, um ihr die Zeit zu geben, bis nach vorne zum Mikrofon zu gehen.
Abende wie diese sind im Bluestockings Routine, fast jeden Tag gibt es irgendeine Lesung, Diskussion oder Yoga-Stunde. Das Kaffee hat bis um elf geöffnet, sieben Tage die Woche. Die Organisation bleibt jeweils den Gästen überlassen, das Kaffee ist lediglich der Gastgeber. Die Veranstaltungen entstehen überwiegend auf Anfrage, die Eventgruppe wählt lediglich aus. Das Publikum wechselt mit den Veranstaltungen, heute sind es vor allem Frauen Mitte Dreissig, darunter viele, die selbst lesen wollen. Etwa dreissig Leute sind gekommen, die wenigsten kannten sich. Sechs Frauen trugen ihre Texte vor. Manche sprachen über Liebe, andere über ihren Alltag, fast keine über Feminismus. »Ich bin eine Künstlerin, keine Feministin, ich liebe alle Menschen«, sagte Lädy am Ende ihrer Rede, mit funkelnden Augen und unter donnerndem Applaus.
Metareporter Longform ist eine Text-Reihe mit Reportagen, welche Hotspots des Wandels in Kultur, Medien und Gesellschaft untersuchen. Der vorliegende Text entstand 2015 innerhalb des von Frédéric Martel und Ruedi Widmer betreuten „Research Project“ des Master Kulturpublizistik.
Philipp Spillmann ist Journalist, Autor und Student des Master Kulturpublizistik.