von Karin Seiler –
«I learned today that I’m going to Troy, Michigan. I know nothing about it. I just hope that it’s safe and that it’s a place where they respect science. I just want to get back to work. I want to be a person again. I don’t want the world to think I’m over. I’m still here.»
Im November 2015 war Dr. Refaai Hamo ein in Istanbul gestrandeter Mann, ein syrischer Flüchtling, hoffnungslos, mittellos, gedemütigt. Gemeinsam mit einer Tochter und einem Sohn hatte er den Raketenangriff überlebt, der sein Haus in Afrin zerstörte und seine Frau und eine Tochter tötete. Fast zwei Jahre lang hatte er auf eine Ausreisemöglichkeit gewartet und schliesslich ein Visum nach USA erhalten. Am 18. Dezember traf er mit seiner Familie in Detroit ein.
Am 12. Januar 2016 richtete Präsident Obama mit der State of the Union Adress – eine jährliche Veranstaltung, bei welcher der Präsident der Vereinigten Staaten einen Bericht mit seiner Einschätzung der Verhältnisse seines Landes vorträgt – seine letzte grosse Ansprache an den Kongress und an das amerikanische Volk. Einer Tradition folgend lädt das Weisse Haus dazu jedes Jahr eine Anzahl ausgewählter Gäste ein, welche die besonderen Anliegen des Präsidenten repräsentieren. In der Loge der First Lady befand sich dieses Jahr auch Dr. Hamo. Zu verdanken hat Dr. Hamo die Einladung ins Weisse Haus dem Fotografen Brandon Stanton und dem Photoblog Humans of New York (HONY), zu dessen 17 Millionen Followern auch Präsident Obama gehört. Stanton porträtiert dort mehrmals pro Woche Menschen, die er auf den Strassen New Yorks antrifft.
Humans of New York wurde von Stanton 2010 als privates Projekt gestartet. Stanton, ursprünglich Trader und fotografischer Autodidakt, wollte auf einer interaktiven Landkarte 10’000 Porträts von Bewohnern New Yorks platzieren, eine Art visueller Volkszählung unter dem Motto «one portrait at the time». Als Stanton begann, die Menschen, die er fotografierte, auch zu interviewen und die Bilder mit Textfragmenten dieser Interviews zu verbinden, entwickelten sich seine Blogbeiträge nach und nach zu berührenden, erzählerisch verdichteten Momentaufnahmen. Die Porträts machen spürbar, dass Stanton es versteht, so auf die Menschen zuzugehen, dass sie sich ihm gerne öffnen. Man liest diese Geschichten gern – Stanton hört genau zu und zeigt in der Kombination von Text und Bild eine Sensibilität für Zwischentöne und Ungesagtes. Die Form der Beiträge bleibt stets konstant, längere Geschichten werden zu Bildfolgen gruppiert. Die Kürze der Texte, die Regelmässigkeit, mit der die Geschichten erscheinen, aber auch die Dramaturgie der zeitlich versetzten Abfolge passen perfekt zum Format Facebook und dürften wesentlich zur Popularität von HONY beitragen.
Seine Beiträge von den Strassen New Yorks ergänzt Stanton mit längeren oder kürzeren Serien von seinen Reisen zu anderen Schauplätzen. Eine von ihnen zeigt Porträts Menschen in den Gefängnissen der USA, viele von ihnen mit lebenslänglichen Haftstrafen. Die sich im Kreislauf von Armut, Gewalt, Missbrauch und Drogen motivisch wiederholenden Lebensgeschichten werden hier als Einzelschicksale, auf subtile Weise aber auch als Folge gesellschaftlichen Versagens begreifbar.
Im Oktober 2015 reiste Stanton nach Istanbul, um Flüchtlinge zu porträtieren, deren Asylgesuche von den USA angenommen worden waren («Syrian Americans»). Dort traf er auch auf Dr. Hamo, der für die Leser des Blogs zunächst einfach nur «The Scientist» war. Die Geschichte des Mannes, der sich nichts sehnlicher wünschte, als wieder seinen Beruf als Wissenschaftler ausüben zu können, nicht mehr nutzlos zu sein, löste eine riesige Welle der Anteilnahme aus und zog schliesslich auch die Einladung ins Weisse Haus nach sich.
Mittlerweile ist HONY mit der Publikation von zwei Büchern auch ein kommerziell erfolgreiches Projekt und Stanton wird in den Medien als einflussreiche Persönlichkeit bezeichnet. Er setzt seinen Blog auch zum Fundraising für humanitäre Anliegen ein und vermag in kurzer Zeit hohe Summen an Spendengeldern zu generieren. Aktuell kamen in zwei Wochen $3.4 Millionen für die Kinderkrebsforschung des Memorial Sloan Kettering Cancer Centers zusammen, wo er Patienten, Angehörige, Ärzte und Mitarbeiter porträtiert hatte.
Kritische Stimmen, wie zum Beispiel Vinson Cunningham in «The New Yorker» werfen Stanton vor, dass HONY ein sentimentaler Wohlfühlblog sei, der durch die Bildregie, die kantenlose Ästhetik der Bilder und die ausgeglichene Tonalität der Texte menschliche Schicksale leicht konsumierbar mache und den Einfluss gesellschaftlicher und sozialer Verhältnisse konsequent ausblende, um den Leserinnen und Lesern durch die Erzählungen von privaten Höhen und Tiefen, Erfolgen und Schicksalsschlägen einen flüchtigen Emotionsflash zu verschaffen. In seinen Statements distanziert Stanton sich auch explizit von jeder politischen Absicht – sein Anliegen sei es ausschliesslich, die Menschen ihre Geschichte erzählen zu lassen, ihnen eine Stimme zu geben. Als er am 14. März auf HONY einen offenen Brief an Donald Trump postete, berief er sich zunächst genau auf diese Position. Er habe immer versucht, unpolitisch zu sein, doch sei ihm bewusst geworden, dass Widerstand gegen Trump nicht nur eine politische, sondern vor allem eine ethische Notwendigkeit sei. Er spricht über seine eigenen Erfahrungen mit Flüchtenden und den Menschen, die er auf seinen Reisen nach Afghanistan, Irak oder Jordanien traf und wendet sich mit einfachen, aber klaren Worten gegen den Rassismus und die Hassbotschaften des republikanischen Präsidentschaftskandidaten. Die politische Botschaft eines Unpolitischen wurde über eine Million Mal geteilt, erreichte 2,2 Millionen Likes und 69’000 Kommentare und schlug damit alle jemals auf Facebook geposteten Beiträge.
Der Anspruch, eine durch Dekontextualisierung, Auswahl und Bearbeitung der Beiträge geschaffene Realität als repräsentativ darzustellen, ist sicherlich problematisch. Das Fehlen eines erkennbaren Bewusstseins für die historischen oder theoretischen Implikationen des fotografischen Porträts oder der Street Photography wirft viele Fragen auf. Doch Stanton ist kein Intellektueller und nimmt diese Position für sich auch nicht in Anspruch. Er hat mit seinem Blog ein eigenes Format für visuelles Storytelling in Sozialen Medien geschaffen, das ohne Werbung oder Clickbaits auskommt. Die über Jahre durchgehaltene hohe Frequenz der Beiträge bildet ein Continuo, das tragende Fundament, auf dem die Solostimmen der einzelnen Geschichten sich als immer neue Melodien entfalten und sich zu einer grossen vielstimmigen Erzählung verdichten, der zuzuhören die HONY-Community offenbar nicht müde wird. Durch die Kraft der dokumentarischen Erzählung erinnert HONY seine Leserinnen und Leser jede Woche daran, dass jede Biografie, sei sie scheinbar noch so banal, aufregend, tragisch, wunderlich, poetisch, verzweifelt und erhebend sein kann – dass es alle diese Geschichten wert sind, erzählt, aufgeschrieben und gelesen zu werden. Vielleicht liegt auch darin so etwas wie eine politische Dimension.
Karin Seiler studiert im Master Kulturpublizistik.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.