Essay von Julia Kohli —
Wut ist ein wertvolles Gefühl. Zeit, dass auch Frauen es sich zugestehen.
Die einzige gesellschaftlich legitimierte Wut von Frauen ist der sogenannte Zickenkrieg. Wenn es um die Gunst von Männern geht, dürfen sie ein bisschen «die Krallen zeigen». Die TV-Sendung «Der Bachelor», wo Frauen leicht bekleidet um einen Macker buhlen, zelebriert dies wöchentlich.
Hier soll von einer anderen Variante des weiblichen Zorns die Rede sein: von demjenigen, den Frauen aufgrund von alltäglichem Sexismus, sexuellem Missbrauch und Gewalt empfinden. Es soll gezeigt werden, dass die Zensur dieser Wut genauso demütigend ist wie die ursprüngliche Verletzung. Die amerikanische Psychiaterin Jean Baker Miller erwähnte bereits in den frühen 1990er-Jahren, dass die Wut der Frauen offenbar zu den grössten gesellschaftlichen Tabus gehört – sie fand damals kaum wissenschaftliche Literatur darüber. Grund dafür, so folgerte sie, müsse eine tiefe kulturelle Angst sein: Während Männer sich täglich in Wettbewerb und Konfrontation beweisen müssten, seien Frauen in erster Linie für die Erfüllung von Bedürfnissen zuständig. Und wo kämen wir hin, wenn unsere Dienstleisterinnen die Fäuste erhöben, wenn die Hälfte der Menschheit sich nichts mehr bieten liesse?
Für Gleichstellung kämpfende Frauen haben wir in letzter Zeit durchaus gesehen. Im Sommer nahmen Hunderttausende Frauen am Schweizer Frauenstreik teil, nicht zuletzt weil die #MeToo-Bewegung seit 2017 grassierende Missstände zwischen den Geschlechtern wiederholt thematisiert hat und die Wahl von Donald Trump bewies, dass Frauenhass auch in der westlichen Kultur noch salonfähig ist. Doch auch wenn Bilder von schrillen Transparenten und erhobenen Fäusten viele Frauenherzen kurz schneller schlagen liessen, sind solche Proteste auch heute noch exotische Ausnahmeerscheinungen.
Im Normalfall, im Alltag, wird die Wut von Frauen mit Augenrollen und Häme sanktioniert – von beiden Geschlechtern. «Wut ist ein männliches Privileg», schrieb die deutsche Journalistin Alena Schröder und verwies auf den Fall Kavanaugh, in welchem der damalige Supreme-Court-Kandidat eines sexuellen Übergriffs während der Collegezeit beschuldigt wurde. Die Klägerin, Christine Blasey Ford, die seinen Aufstieg ins höchste Richteramt verhindern wollte, hätte wohl allen Grund gehabt, ihre Wut zu zeigen; sie blieb jedoch während der Anhörung sichtlich bemüht, gefasst zu wirken und ihre Erfahrung möglichst nüchtern zu schildern. Brett Kavanaugh hingegen, der Beschuldigte, tobte, verbreitete Lügen über die Klägerin und beteuerte seine angebliche Unschuld mit unlogischen Aussagen – und konnte die Mehrheit im US-Senat überzeugen.
Frauen haben es meisterhaft verinnerlicht, ihre Wut zu verbergen, denn «nichts, so wurde uns lange genug versichert, ist unattraktiver als eine wütende Frau», schreibt die Amerikanerin Rebecca Traister in ihrem Buch «Good and Mad», in dem sie die Wut von US-Politikerinnen unter die Lupe nimmt. Sie zeichnet nach, wie Frauen eingebläut wurde, dass Wut für Frauen kein Weg sei. Popkultur und Medienberichterstattung halfen bei der Verbreitung dieses Glaubens. Die Schauspielerin Gwyneth Paltrow zum Beispiel warnt Frauen auf ihrer Internetplattform «goop», einer Beziehung drohe schnell das Aus, sollte die Partnerin ihre Wut zeigen. Michelle Obama wurde wegen ihres Einsatzes gegen Rassismus und Sexismus von einem konservativen Kolumnisten «Barack’s Bitter Half» genannt.
«Wenn du mehr lächeln würdest, wärst du viel hübscher!»; Sprüche dieser Art kriegen Mädchen und Frauen immer noch zu hören. Und wer nicht attraktiv ist, so wissen Frauen aus dem täglichen Medienkonsum, hat im Leben verloren. Knaben wird währenddessen beigebracht, dass Wut Respekt verschafft: «Hau mal auf den Tisch, zeig denen, wo’s langgeht!» Solche Tipps gehören selten ins Erziehungsrepertoire für Mädchen. Und so messen sich erwachsene Frauen jeden Tag in ihren ganz eigenen Wettkampfdisziplinen «Einfach lächeln», «Ich tu so, als hätte ich das nicht gehört», «Ich reagiere mich beim Sport ab, ist auch gut für die Figur». Es gelingt ihnen über Jahre und Jahrzehnte, so zu funktionieren – die meisten nehmen ihren Groll mit ins Grab.
Es ist natürlich nicht so, dass Mädchen ihre Wut nicht äussern könnten, sie tun es im Kindesalter recht oft, denn sie spüren genau, wenn sie ungerecht behandelt werden. Irgendwann einmal nehmen sie jedoch vermehrt die Zeichen wahr, dass ihre Wut unerwünscht ist. Neben die Lächel-doch-mal-Aufforderung gesellt sich die genauso schädliche Invalidierung der Wut durch Aussagen wie: «Du bist süss, wenn du dich aufregst.» Die Wut selbst, die vielleicht wegen einer Grenzüberschreitung entstand, wird nicht ernst genommen. Mädchen wird so früh vermittelt, dass ihre Wut sich primär auf ihr Äusseres auswirkt – der Ursprung des Gefühls bleibt dabei irrelevant.
Eine weitere Strategie, wie die Wut von Frauen abgewertet wird, habe ich ausgerechnet in einem Kommunikationskurs miterlebt. In der letzten Stunde entbrannte eine Diskussion darüber, wie man am Arbeitsplatz auf sexistische Bemerkungen reagieren sollte. Der Dozent riet zu einem ruhigen Gespräch. So weit nicht verwunderlich. Als die beelendenden Beispiele der Frauen immer zahlreicher und ihre Stimmen dabei auch mal lauter wurden, geschah etwas Seltsames. Plötzlich war der Kommunikationsspezialist selber aufgebracht und warf ein, dass Männer übrigens auch Opfer von Sexismus sein könnten. Eine Aussage aus dem Nichts. Jede Frau hatte lediglich ihre persönliche Erfahrung geschildert. Offensichtlich war der Dozent mit der Wut der Frauen so überfordert, dass er die Technik des «Derailing» anwenden musste. Er riss damit die Diskussion an sich und stellte uns Frauen als egoistische Meckerliesen hin, die nicht an die Männer dachten.
Wut sei der simple Ausdruck eines Bedürfnisses, fasst es die Medienforscherin Soraya Chemaly zusammen. Sie zu zeigen, sei nicht destruktiv, sondern hoffnungsvoll, denn dieses Gefühl zeuge von einem tiefen Glauben daran, die Umwelt gestalten zu können. Wut, so schreibt die Pflegewissenschaftlerin Sandra P. Thomas, könne Energie zur Bekämpfung von Krankheiten mobilisieren – mit Wut wehren wir uns gegen Angriffe auf die Integrität unserer Person. Frauen, die ihre Wut kommunizieren, können sogar mit einer besseren medizinischen Versorgung rechnen, besagt eine 1983 durchgeführte Studie der Universität Ohio. Die US-Kongressabgeordnete Barbara Lee verriet im Interview mit Rebecca Traister, dass Wut immer ein Teil ihrer Motivation gewesen sei, sich überhaupt gegen Ungleichheit einzusetzen. Dieses Gefühl kann also ein Motor für eine politische Agenda sein und so letztlich auch dem Schutz eines Kollektivs dienen.
Wird Frauen diese Form der Kommunikation aberkannt, so schildert Chemaly, und dies geschehe in der Regel bereits ab fünf Jahren, richten sie die Wut schlimmstenfalls gegen sich selbst. Nicht selten schämen sich Mädchen irgendwann für ihren Zorn und versuchen, ihn anders loszuwerden. Mädchen und Frauen, so Chemaly, leiden auch deshalb disproportional häufiger an Ess- und Angststörungen, an Depressionen und selbstverletzendem Verhalten. Selbstkasteiung, unterdrückte Wut und Schweigen seien drei Verhaltensweisen, die Frauen begleiten. Diese antrainierten Mechanismen untergraben den Impuls, sich selbst zu verteidigen und Raum einzunehmen.
Frauen sabotieren also tendenziell eher sich selbst und manchmal sogar ihr eigenes Erleben. Die Autorin Roxane Gay lässt in ihrem Sammelband «Not That Bad» Opfer zu Wort kommen, die ihre Traumata relativierten, da sie sich kein Recht auf Wut zugestanden. Der Tenor der Erzählerinnen lässt sich einfach zusammenfassen: «Ich sollte mich nicht so anstellen, andere haben Schlimmeres erlebt.» Die Storys schildern eindrücklich, wie verheerend es ist, wenn Frauen sich gezwungen fühlen, Übergriffe auf sich kleinzureden – seien sie verbal oder physisch. Dieses Verhalten strahlt auf andere Frauen aus und wird an die nächste Generation weitergegeben. Die Message lautet: Der Ruf der Männer ist heilig, halt den Mund, falle niemandem zur Last.
Es verwundert nicht, dass Frauen ihre negativen Erlebnisse systematisch abwerten, wenn sie es aus ihrem Umfeld nicht anders kennen gelernt haben. Vor diesem Verhalten sind auch Prominente nicht gefeit. Obwohl die Schauspielerin Uma Thurman ihren ganzen Mut zusammennahm, um den von ihr erlebten Übergriff des Filmproduzenten Harvey Weinstein der Presse zu schildern, war es ihr offenbar wichtig, gleichzeitig zu erwähnen, dass sie auf keinen Fall wütend reden wolle. Die Feministin Lindy West kommentierte Thurmans Aussage mit Sorge, denn es beweise, wie viel Angst Frauen immer noch vor ihrer Wut hätten.
Wut zu zeigen, ist für Frauen mit dem Risiko verbunden, unglaubwürdig zu wirken. Weibliche Wut wird häufig als «irrational», «emotional» oder «wahnsinnig» empfunden. Anfeindungen auf die Klimaaktivistin Greta Thunberg verdeutlichen dies. Donald Trump machte sich über ihre zornige Rede am UN-Klimagipfel lustig, der AfD-Abgeordnete Gunnar Lindemann nannte sie in einem Tweet ein «geistig krankes, behindertes Mädchen».
Besonders absurd wird es, wenn Opfern von sexueller Gewalt hinter vorgehaltener Hand Vorwürfe gemacht werden. Wieso hat sie zwanzig Jahre mit der Anklage gewartet? Wieso hat sie nicht zurückgeschlagen, um Hilfe geschrien, sich losgerissen? Wieso hat sie sich hübsch gemacht? Genau solche Aussagen offenbaren die tatsächliche Tyrannei, die sich mitten in unserer Gesellschaft abspielt. Nachdem die Wut den Frauen mit allen möglichen Tricks wegkonditioniert wurde, wird sie plötzlich wieder eingefordert, wenn Frauen mit einem Täter konfrontiert sind. Eigentlich ist es ganz einfach: Die Schuld liegt immer bei den Frauen. Diese bizarren Forderungen erzeugen eine Dauerspannung, die vielen Frauen eine unbeschwerte Existenz verunmöglicht.
Es sei höchste Zeit, dass Frauen aufhörten, «höflich wütend» zu sein, forderte die liberianische Friedensnobelpreisträgerin Leymah Gbowee letztes Jahr am «Women in the World Summit». Sie war massgeblich daran beteiligt, Liberia aus einer brutalen Diktatur in die Demokratie zu führen. Mit Höflichkeit und Schweigen hat auch die ägyptisch-amerikanische Journalistin Mona Eltahawy aufgehört. Sie deklarierte gegenüber dem Magazin «Vice», sie werde nicht mehr nett sein zu Leuten, die sie als Mensch nicht würdigten. Als sie 2011 als Journalistin von den Demonstrationen am Tahrir-Platz in Kairo berichtete, wurde sie während einer zwölfstündigen Festnahme Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch durch Polizisten. Über solche Geschehnisse zu schweigen oder sie mit höflichen Worten abzuschwächen, komme letztlich immer den Tätern zugute, schliesst sie nach zehn Jahren als Überlebende dieses Traumas.
Die Entertainerin Hannah Gadsby lieferte 2017 mit ihrer Show «Nanette» ein Paradebeispiel, wie selbstermächtigend es sein kann, Wut ohne Entschuldigungen zu kommunizieren. In ihrem Auftritt verkündete sie zunächst, sich von ihrer Nummer, in der sie über ihren nicht dem Idealbild entsprechenden Körper Witze macht, zu verabschieden. Schon dafür erhielt sie tosenden Applaus. Dann irritierte sie das Publikum, indem sie Zweifel am Genre Comedy äusserte, denn mit Witzen, so erklärte sie, erzähle man eine Geschichte nie wirklich zu Ende. Mit einer herrlichen Tirade über die männlich dominierte Kunstwelt – insbesondere den Geniekult um den Chauvinisten Pablo Picasso, der einst stolz kundtat, er würde am liebsten jede Frau verbrennen, mit der er eine Affäre hatte – gab sie einen Vorgeschmack auf ihre Wut. Laut und ohne Rücksicht auf Verluste berichtete sie daraufhin dem Publikum im voll besetzten Opernhaus in Sydney, wie sexueller Missbrauch und Gewalt in ihrer Kindheit sie fast zerstört hätten und wie grausam sie als Lesbe von ihren Mitmenschen behandelt wurde. Heute jedoch, so donnerte sie, würde es niemand mehr mit ihr aufnehmen können. Man glaubt es ihr sofort. Was Gadsby gemacht hat, war riskant und energieraubend, das war ihr anzusehen. Ihr Auftritt verdeutlichte jedoch, dass die Kommunikation der eigenen Wut für Frauen notwendig und befreiend ist und auch keine negativen Konsequenzen haben muss – «Nanette» befeuerte ihre Karriere und intensivierte den Diskurs über Gewalt gegenüber LGBTQ-Menschen.
Gadsbys Abrechnung räumt auch mit dem Mythos auf, dass niemand einer wütenden Frau zuhört. Ich persönlich kann mich nicht daran erinnern, einer wütenden Frau nicht zugehört zu haben. Und wer sich Gadsbys Auftritt ansieht, merkt schnell, dass jedes ihrer Worte das Publikum elektrisierte. Schwer vorstellbar auch, dass niemand einer Frau, sagen wir im mittleren Kader, zuhören würde, sollte sie bei einem Meeting mal kräftig auf den Tisch hauen.
Dass wütende Frauen ungehört blieben, ist nicht nur ein Vorurteil von Misogynen und Reaktionären, es hat sich auch in emanzipierten Kreisen etabliert. Die englische Feministin Caitlin Moran, deren humorvolle Bücher ich alle mit grossem Vergnügen gelesen habe, hat es ebenfalls verinnerlicht. In einem Interview beteuerte sie, dass sie auf keinen Fall als wütende Feministin rüberkommen wolle, sonst würde ihr niemand zuhören. Es ist mir ein Rätsel, woher sie diese Vorstellung hat, schliesslich waren die britischen Suffragetten, auf die sie sich selbst immer wieder bezieht, immens wütend und machten daraus auch keinen Hehl. Auch Frauenrechtlerinnen sind also vor den Mechanismen der Wutunterdrückung nicht gefeit und versuchen nicht anzuecken – absurd, wenn gesellschaftliche Änderungen gefordert werden. Ähnlich verhält es sich mit «sexpositiven» Feministinnen, die sich letztlich nur dem gängigen Vorurteil, dass emanzipierte Frauen prüde sein müssen, beugen.
Was ausser Frage steht, ist natürlich, dass Humor trotzdem wirksam sein kann. Frauen, die Stand-up- Comedy machen, hüllen ihre Wut in Humor und vermitteln die Absurdität ihrer Erlebnisse auf diese Weise. Ohne Wut wäre sie nicht Komikerin geworden, verriet Joan Rivers, eine der berühmtesten Unterhalterinnen in den USA. Und auch wenn Hannah Gadsby den Humor infrage stellte, diente dieser doch als bunte Verpackung, um die wahre Wut unter die Leute zu bringen. Ihre Berufskollegin Michelle Wolf brachte am letztjährigen Korrespondenten-Dinner im Weissen Haus Donald Trump zum Toben, weil sie extrem hart mit ihm und seiner Familie ins Gericht ging. «Schmutzig» nannte der US-Präsident ihre Darbietung. Tatsächlich hatte sie in ihrem Verriss mehr als einmal vulgäre Worte benutzt.
Der amerikanische Psychologieprofessor Richard Stephens untersuchte in einer Studie die Wechselwirkung von Schimpfwörtern und Schmerzempfinden. Fluchende Probanden, so stellte sich heraus, konnten ihre Hand länger in eiskaltem Wasser halten als ihre ruhig bleibenden Mitstreiter. Schimpfwörter zu benutzen, so schloss der Wissenschaftler, kann nicht nur schmerzlindernd, sondern auch kathartisch wirken. Mona Eltahawy schwört auf die Kraft des Fluchens und rät Frauen in ihren Büchern, ihrer Wut so freien Lauf zu lassen. Insbesondere beschuldigt sie übrigens auch weisse Feministinnen in den USA, an einem wohltemperierten Feminismus festzuhalten und so indirekt Donald Trump die Präsidentschaft ermöglicht zu haben.
Wer hier eine Relativierung erwartet, wird enttäuscht werden. Denn die spezifische Wut, von der hier die Rede war, ist nicht mit Hass oder Hetze vergleichbar. Es ist ein Gefühl, das so legitim ist wie die Angst, die einen Menschen bewegt, aus einem brennenden Haus zu rennen. Gefühle können rational und lebensrettend sein. Niemand bleibt lächelnd im brennenden Haus stehen und schreibt eine Pro-Kontra-Flucht-Liste.
Die amerikanische Feministin Audre Lorde meinte, dass jede Frau ein Arsenal an Wut besitze. Würde sie dieses gezielt nutzen, hätte sie die Macht, Fortschritt und Wandel voranzutreiben. Frauen diese Wut abzuerkennen, ist der wahre Wahnsinn.
Julia Kohli studiert im Master Kulturpublizistik. Der Essay «Die tragische Sanftmut der Frauen» erschien am 18. Januar 2020 im Magazin des Tages-Anzeigers.