Von Michael Fässler –
Das Podcast-Netzwerk «Radiotopia» fordert in den USA das alteingesessene National Public Radio heraus – mit Geschichten, die im öffentlichen Rundfunk unerhört sind. Ein Besuch bei drei Radiotopia-Produzenten in New York.
Wir wachsen mit den Geschichten, die wir mitschreiben, die sich in uns einschreiben und wir uns in ihnen, Geschichten strukturieren Gedanken und Gedächtnis, Geschichten weisen uns einen Platz in Zeit und Welt zu.
Hudson Falls Senior High School, Upstate New York, 11. September 2001, neun Uhr morgens: Der Weg von der Toilette zurück in den Mathematik-Unterricht führt am Sekretariat vorbei, im Sekretariat läuft ein Fernseher, im Fernseher brennt ein Turm. Beim Mittagessen, drei Stunden später, sagt der Tischnachbar: It looked just like in the movies. Kurz darauf halten die ersten Schulbusse vor dem Gebäude und die Hudson Falls Senior High School, dreieinhalb Autostunden von der Stadt entfernt, die in Upstate New York alle nur City nennen, wird evakuiert. Keine Rauchsäulen weit und breit, es ist die zweite Woche eines Austauschjahrs in den USA, Land of the Free, kollabiert sind nicht nur zwei Türme, kollabiert ist ein ganzes Narrativ.
Es gibt Geschichten, die erfunden sind und Geschichten, die sich zugetragen haben. Und es gibt Geschichten, die larger than life sind, unaussprechbar, Geschichten ohne Autoren, sie brennen sich ein in die Zeit und in das Gedächtnis einer Gemeinschaft. Ein Loch im Zelluloid. Doch das Leben in der Stadt geht nach der Tragödie weiter, in der Realität und in der Phantasie. Vierzehn Jahre danach reckt sich am einstigen Ground Zero ein neuer Turm in die Höhe, WCT 1, die neue Gestalt im Mythen gebärenden Mythengebäude New York, in der die Mediengruppe Condé Nast mit mythischen Medien‑Flaggschiffen wie dem New Yorker schon eingezogen ist.
Dreissig Blocks oberhalb des WCT 1 sitzt Heather Chaplin im Eugene Lang College der New School in ihrem Büro, beisst in ein Sandwich und sagt: «Alles was ich in meinem Leben gelernt habe, habe ich aus der Fiktion gelernt. Das Konzept Wahrheit ist interessant, aber die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion verläuft nicht so gradlinig, wie wir das manchmal gerne möchten.» Chaplin ist Direktorin des Journalism + Design-Programms der New School. Es ist der 6. April 2015, Anlass und Thema des Treffens das allenthalben proklamierte Golden Age of Podcasting, zu dem ein paar Wochen vorher ein von Chaplin moderiertes, vielbeachtetes Panel stattgefunden hat.
Die Aufmerksamkeit des Publikums von Chaplins Panel lag auf vor allem auf einer Teilnehmerin, Sarah Koenig, der Journalistin, die mit dem Podcast Serial im Herbst 2014 mehr Menschen erreichte als die Fernsehserien Mad Men, Louie und Girls. Serial schaffte, was vorher noch keinem Podcast gelang: Er wurde Mainstream. Der Comedian Stephen Colbert stellte Koenig in seiner Late Night Show The Colbert Report als „the world’s first superstar podcaster“ vor, Serial wurde von Saturday Night Live parodiert, über Serial selbst gab es einen Podcast, Serial war auf einmal in aller Munde und Ohren. Obwohl Serial doch eigentlich nur ein Podcast war – ein Format, das sich in der letzten Dekade eher schlecht als recht behauptet hat als ernstzunehmende Alternative zum real time radio und im Wesentlichen daraus bestand, dass ausgestrahlte Sendungen im Internet verfügbar gemacht wurden.
Serial beginnt mit einem schrecklichen Verbrechen. 3. Januar 1999, Woodlawn High School in Baltimore, Maryland, es ist der Tag, an dem die 18‑jährige Hae Min Lee nicht aus der Schule zurückkehrt. Einen Monat später wird ihre Leiche in einem Park im Westen der Stadt gefunden. Kurz darauf wird ihr Exfreund Adnan Syed, Muslim, pakistanische Wurzeln, festgenommen, verurteilt und lebenslang eingesperrt. Sarah Koenig drehte in Serial das Rad der Zeit zurück, sprach mit Beteiligten, Behörden – und mit dem verurteilten Mörder, der bis zum heutigen Tag seine Unschuld bezeugt. Im Laufe der 12 Episoden stellt sich heraus, dass es blinde Flecken in den Protokollen der Polizei gibt, Widersprüche bei den Schilderungen im erweiterten Freundeskreis des Opfers. Die Timeline gerät durcheinander, das Gedächtnis der Beteiligten, der Behörden und dem verurteilten Mörder erweist sich als unzuverlässige Quelle. Adnan Syeds klingt angenehm. Koenig ist verunsichert, weiss nicht, wem sie ihr Vertrauen schenken soll. Diese Zweifel trägt sie nach aussen an eine Zuhörerschaft, die ihr an den Lippen hängt – und die Woche für Woche grösser wird, bis zur letzten Episode mit dem programmatischen Titel „What we know“. Sarah Koenig zuzuhören war ein wenig wie der besten Freundin zuzuhören: Subjektiv, emotional, intim. Man würde sich gerne daran gewöhnen.
Serial war nicht nur eine Real Crime Story, sondern auch eine Reflexion über die Wahrheit, über die Erinnerungsfähigkeit des Menschen, über Vorurteile und über das Rechtssystem der USA. Serial operierte am lebenden Leib der Erinnerung an ein reales Verbrechen und zeigte so umso eindrücklicher auf, dass es nicht nur eine Geschichte gibt, sondern viele Geschichten – je nachdem, bei wem man zu welcher Zeit anklopft. Und Serial zeigte auf, was mit dem Format «Podcast» möglich ist. Es gibt diesbezüglich eine Zeit vor Serial und eine Zeit nach Serial. Fast von selbst ergibt sich, dass fünf Millionen Zuhörer seit der letzten Episode Mitte Dezember 2014 hungrig sind auf neue Geschichten.
Dieser Hunger könnte etwas mit dem Hunger zu tun haben, den klassische journalistische Produkte und ihre Geschichten in den letzten Jahren immer weniger stillen können. Journalismus hatte einst sehr viele Funktionen. Heather Chaplin unterstreicht, dass Nachrichten nur eine Ingredienz des klassischen Printmediums und seines Geschäftsmodells waren: “Das Profitable an Medienprodukten waren Augäpfel, die mit Papierseiten zusammentrafen, auf denen auch Nachrichten abgedruckt waren.“ Und sie verweist darauf, dass nicht nur der Podcast mit dem multiperspektivischen Erzählen bewegender Geschichten, sondern auch satirische TV-Formate wie „The Daily Show“ klassische Funktionen des Journalismus übernommen haben.
Auch auf der institutionellen und organisatorischen Seite ist die Podcast-Revolution vor dem Hintergrund der Geschichte traditioneller Medien zu lesen. Im Schatten von Serial spielte sich im vergangenen Jahr eine zweite Podcast-Erfolgsgeschichte ab: Das Netzwerk Radiotopia, ein Zusammenschluss von mittlerweile 13 unabhängigen Podcast-Produzenten, ist mit einem Crowdfunding-Ergebnis von über 600’000 Dollar und über 20’000 Spendern der erfolgreichster Radio-Kickstarter in der Geschichte. Radiotopia ist ein Netzwerk: Produzenten kleiner, unabhängiger Podcasts tauschen Know-How aus, empfehlen sich gegenseitig und bemühen sich gemeinsam um Anteile am Werbekuchen, der seit dem Erfolg von Serial immer grösser wird. Damit ist Radiotopia in vielerlei Hinsicht die Antithese zum Public Radio, wo viele der Radiotopia-Produzenten ihr Handwerk gelernt haben, und wo eigentlich auch die für Radiotopia verantwortliche Dachorganisation PRX (Public Radio Exchange) angesiedelt ist. Radiotopia ist Netzwerk statt Koloss, Experiment statt Kontinutität, on demand statt real-time, globale Nische statt nationaler Mainstream. Und Radiotopia zielt auf Geldquellen, die für das traditionelle öffentliche Radio unerreichbar sind, weil diese Geschichten nicht on air, sondern im Netz erzählt werden. Das Geschäftsmodell basiert auf drei Säulen: Listener Support, Native Advertising und Institutional Backing. Listener Support heisst: Wer seinen Job gut macht, der soll vom Publikum belohnt werden. Native Advertising heisst: Die intime Beziehung, die zwischen Podcaster und Zuhörer entsteht, wird von der Werbung genutzt. So etwa, wenn Podcaster bereit sind, die Werbebotschaft gleich selbst vorzulesen:
«This episode was brought to you by parachute, who make insanely comfortable high quality bedding. I slept in one myself. And I can indeed confirm that this is true.»
Institutional Backing schliesslich heisst: Private Organisationen stellen Risikokapital zur Verfügung. Die Knight Foundation aus Miami etwa begleitet Radiotopia mit ihrem Media Innovation–Programm von Anfang an. Weshalb tut sie das? Heather Chaplin, Direktorin des «Journalism + Design»-Programms der New School überlegt nicht lange: «Radiotopia ist eine vielversprechende Idee, die zur richtigen Zeit kommt mit dieser momentanen Explosion im Podcast-Bereich. Für mich passen diese zwei Organisationen ideal zusammen: Die Knight Foundation ist bereit, Risiken einzugehen. Die Verantwortlichen verstehen, dass Projekte auch scheitern können. Aber das wird nicht als Problem betrachtet, weil man auch durch das Scheitern vorwärtskommen kann.» Vom Scheitern kann momentan allerdings nicht die Rede sein, ein paar Wochen nach diesem Gespräch wird die Knight Foundation bekanntgeben, dass sie das Radiotopia-Netzwerk mit einer zusätzlichen Million Dollar unterstützt, damit Radiotopia dem eigenen Anspruch gerecht werden kann: We want to change radio forever.
Der Sprung durch das Fenster: Benjamen Walker, «Theory of Everything»
East Village, Alphabet City: Eine Backsteinmauer, dahinter ein Schlafzimmer. Auf dem Tisch steht eine Postkarte, eine Reproduktion des Gemäldes «An Artist in his studio» von John Singer Sargent aus dem Jahr 1904. Am Tisch sitzt Benjamen Walker, Radiotopia-Gründungsmitglied. Walkers Blick ruht auf der Postkarte. Dieses Schlafzimmer ist das Studio, in dem Walker seinen Podcast «Benjamen Walker’s Theory of Everything» produziert und in die Welt schickt – über eine Million Menschen folgen ihm alleine auf der Plattform Soundcloud. Auf der Postkarte sieht man einen Künstler, der in seinem Atelier an einem Gemälde arbeitet. Es ist kein normales Atelier, sondern das Schlafzimmer des Künstlers. Die Staffelei fehlt, das Gemälde ist zwischen Bett- und Tischkante aufgestellt. Das Gesicht des Malers ist grimmig und steht im Kontrast zum Gemälde, an dem er arbeitet: Eine Landschaft, Pferde galoppieren über eine Wiese, die Bäume sind saftig und grün. Walker blickt von der Postkarte auf: «Die meisten Sargent-Experten schenken diesem Werk keine Bedeutung, für sie ist es nichts weiter als ein Scherz, den sich der Künstler erlaubt hat. Für mich ist es ein Meisterwerk: Dieses Bild verkörpert für mich die Idee, dass man durch Kunst transzendieren kann – für mich malt der Künstler auf dieser Postkarte keine Landschaft, sondern ein Fenster.»
Benjamen Walker verbringt ein gutes Stück seines Lebens damit, zu versuchen, auf die andere Seite des Fensters zu gelangen: «Die Realität auf der anderen Seite ist immer gleich real wie unsere eigene Realität. Aber ich habe Sie nicht in dieses Zimmer gebracht, um über die Metaphysik der Realität zu diskutieren. Ich habe Sie in dieses Zimmer gebracht, weil ich Ihre Hilfe brauche.» Walker geht in die andere Ecke des Zimmers, der Blick bleibt auf die Postkarte fokussiert. «Ich bitte Sie, vor dem Tisch hinzuknien und ihre Arme nach oben zu halten. Ich brauche eine Startrampe.» Walker nimmt Anlauf, schliesst die Augen, zählt auf drei, sprintet durch das Zimmer, hechtet auf die Postkarte zu. Ein Knall. Walker hält sich den Kopf, schreit, flucht: «Goddammit, Fuck».
Der Versuch, mit einem Sprung in eine Postkarte von John Singer Sargent die Realität zu überwinden, hat nur in einer Podcast-Episode von Benjamen Walker, der Radio-Stimme, der lebenden Kunstfigur, stattgefunden. Aber so überzeugend, als wäre man selbst dabei gewesen. In einem Café im East Ecke neunte Strasse und Avenue C, einen Katzensprung von seinem Apartment entfernt, sagt Benjamen Walker, der Interviewpartner: «Das Wort Fuck könnte ich im öffentlichen Radio nie sagen.» Walker, ein Mittvierziger, dessen radikale Erzählweise von einer unspektakulären Erscheinung und einem freundlichen Lächeln kontrastiert wird, spricht auch im echten Leben schleppend, nasal, mit Singsang in der Stimme.
«Benjamen Walker’s Theory of Everything» spielt sich zwischen Reportage und Essay, zwischen Erlebtem und Erfundenem ab. Einer unbeteiligten Person in wenigen Sätzen näherzubringen, was Walkers Podcast zusammenhält, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ist dies das beste oder das schlechteste, was einem Podcaster passieren kann? Walker nippt an seinem Espresso. «Ich glaube, es ist beides zur gleichen Zeit. Einerseits gibt es mir volle Freiheit: Wenn mich etwas beschäftigt, dann mache ich es zum Thema meines Podcasts – und ich weiss, dass es dafür immer Raum gibt. Der Titel „Theory of Everything“ ist kein leeres Versprechen. Andererseits ist es wahnsinnig schwierig, über den Podcast zu sprechen.»
Vielleicht geht es im Kern gar nicht darum, welche Themen und Geschichten Walker in seinem Podcast aufgreift, sondern um das, was zwischen den einzelnen Beiträgen passiert. Der Claim lautet: Connecting the dots. All of them. «Mein Podcast hat normalerweise drei Teile. Zwischen diesen drei Teilen entsteht ein Raum, wo sich der Zuhörer die Frage stellen muss, was die Teile miteinander verbindet», sagt Walker. Auf die Geschichte von Walker, der durch den Sprung in eine Postkarte in eine andere Welt gelangen will, folgt die Geschichte eines Mannes, der Walker am Telefon erzählt, wie er aus einer Reha-Klinik ausbricht: «Ich dache ich sterbe, ich sah das Ende kommen. Ich war verzweifelt, hatte das Gefühl, die Verbindung zur Realität zu verlieren.» Der Anrufer ist ausser sich, erzählt von seiner Flucht von Los Angeles in die 3400 Meilen entfernten Berge von North Carolina. Es ist die Flucht in eine andere Welt. Eine kleine Hütte, wilde Truthähne im Garten, ein Dorf, wo es «keine Wiederholungen» gibt: Ein Supermarkt, eine Apotheke. Man kann so viel rauchen wie man will, keine AA-Gruppen weit und breit.
Wo genau in Walkers Podcast das Narrativ jeweils kippt, wo aus Erlebtem Erfundenes wird, wo aus dem nüchternen Betrachter der abgefahrene Chronist in Hunter S. Thompson-Manier wird, ist für den Zuhörer nicht immer klar. Und manchmal bewegt sich das Pendel innerhalb einer Sendung mehrere Male hin und her. Ist das nicht ein Problem für die Zuhörer, wenn man nie weiss, wo man eigentlich steht? «Ich weiss manchmal ja selbst nicht, was real ist, und was nicht. Aber wenn es die Zuhörer herausfinden und mir sagen könnten, wäre das natürlich ideal.» Walker lacht. «Die richtige Antwort lautet: Ich spiele nicht mit Realität und Fiktion, um die Leute übers Ohr zu hauen. Ich versuche, damit einen Raum zu schaffen, wo Neues entstehen kann. Ein Raum, wo das Gehirn des Zuhörers aus der Reserve gelockt wird.»
Das Spiel mit der Realität erscheint dennoch delikat, weil es den Vertrag zwischen Produzent und Rezipient strapaziert, der im Radio normalerweise lautet: Ich erzähle dir eine Geschichte, und die beruht auf wahren Tatsachen. Besonders in dieser entscheidenden Phase ein Jahr nach der Lancierung von Radiotopia, wo die Aufmerksamkeit auf das Netzwerk immer grösser wird, ist Walker darauf angewiesen, seine Zuhörerschaft zu pflegen und nicht zu irritieren. Könnte man denken. Walker entgegnet: «Im Internet zirkulieren unzählige Verschwörungstheorien. Und niemand käme auf die Idee, alles für bare Münze zu nehmen. Im Radio ist das anders, und es bereitet mir grossen Spass, damit zu spielen.»
Wenige Tage vor dem Treffen mit Walker hat der deutsche Comedian Jan Böhmermann behauptet, er hätte das Video mit dem Stinkefinger des damaligen griechischen Finanzminister Yannis Varoufakis fingiert. Die Konfusion in der Presse reicht bis in die USA. «Die Geschichte mit dem Finger zirkuliert nun in der Öffentlichkeit, und Richtigstellungen stellen in der Regel gar nichts richtig. Ist der Finger nun echt oder inszeniert? Die Konfusion hält an, egal wer nun noch dazu äussert. Ich weiss nicht, ob es einen Weg zurück zur Gewissheit gibt. Aber in diesem Raum zwischen Realität und Fiktion will ich Geschichten erzählen», sagt Walker. Aber ist das noch Journalismus? «Ich glaube nicht, dass der Journalismus momentan einen sehr guten Job macht, die Welt zu erklären. Vom Journalismus wird erwartet, dass er Antworten liefert. Das ist nicht mein Ziel. Ich will die Zuhörer vielmehr dazu führen, die richtigen Fragen zu stellen.»
Die Espressotassen sind leer. Walker sieht müde aus, er ist in der vorherigen Nacht aus China zurückgekehrt. Im Hintergrund sitzen junge Menschen an Laptops. Sie schreiben, telefonieren, twittern, zeichnen farbige Flächen in Excel-Sheets. Kürzlich hat Walker eine dreiteilige Serie über die Sharing Economy produziert – und aufgezeigt, wie einfach sich junge Menschen vom Traum der Selbstständigkeit und Teilhabe verführen lassen, um in ausbeuterischen Strukturen zu landen. Walker hat für diese Serie einen 25‑jährigen Praktikanten einen Monat nach Kalifornien geschickt, um einen Selbstversuch in der Sharing Economy zu unternehmen – dank der Unterstützung durch das Radiotopia-Netzwerk als bezahltes Praktikum.
Wenn es in den Podcast-Folgen von Benjamen Walker einen roten Faden gibt, dann ist es wohl der scharfe Blick auf die Veränderung der Gesellschaft durch die Errungenschaften der Informationstechnologie. «Das Internet ist definitiv ein grosses Thema in meinem Podcast. Ich habe früher im öffentlichen Radio eine Sendung produziert, die sich ausschliesslich um Internet-Themen drehte. Ich stiess aber immer schnell an die Demarkationslinie, wo mir klargemacht wurde: Bis hier und nicht weiter.» Als Podcast-Produzent hat Walker Freiheiten, von denen er beim öffentlichen Radio nur träumen konnte: «Wir leben in einem Land, das von Meinungen im Allgemeinen und von Medien wie Fox News im Besonderen dominiert wird. Das öffentliche Radio hat in dieser Medienlandschaft ein Gegengewicht geschaffen, indem es mit Fakten besticht. Die Vorstellung, jemanden an das Mikrofon zu lassen, der die Wahrheit zur Diskussion stellt, klingt aus dieser Sicht höchst beunruhigend. Und deshalb verstehe ich auch, dass es im öffentlichen Radio keinen Raum gibt für Leute wie mich.»
Dennoch verbindet den Podcaster Walker und Radiotopia einiges mit dem öffentlichen Radio und der Erwartungshaltung seines Publikums. Zuhörer des öffentlichen Radios sind es bereits gewohnt, dass es nichts umsonst gibt: Auch sehr erfolgreiche öffentliche Sender wie WNYC fordern ihre Hörerschaft in regelmässigen Abständen auf, einen finanziellen Beitrag zu leisten – was gut ist, soll dem Publikum etwas wert sein. Was im Netz immer noch für Unverständnis sorgt, ist im Radio bereits Business as usual. Mit dem Umstand, dass die Podcast-Hosts die Werbungen ihrer Sponsoren gleich selbst vorlesen, einem Konzept, das im öffentlichen Radio nicht nur verpönt sondern sogar verboten ist, tut sich allerdings auch Walker schwer: «Die Vorstellung, dass man am Anfang eines Podcasts als erstes die Stimme des Hosts hört, der ein Produkt verkauft, ist für mich unerträglich. Dies ist für mich nicht in erster Linie ein moralisches, sondern ein ästhetisches Problem. Die intime Beziehung zwischen Host und Hörer wird von Beginn weg gestört.» Das Zeitalter des Podcast ist offenbar in einem sehr zweideutigen Sinn ein goldenes: «Wenn mich vor Serial jemand gefragt hätte, was der Unterschied ist zwischen einer guten Radiosendung und einem guten Podcast ist, dann hätte ich gesagt: Es gibt keinen. Und nun gibt es einen: Die Hosts werden gezwungen, die Werbungen selbst vorzulesen. Deshalb stehen auch Lastwagen voller Geld an der Türschwelle von Radiotopia. Und die Ladungen der Lastwagen werden immer grösser.»
Die dunkle Seite des Mondes: Jonathan Mitchell, «The Truth»
- Juli 1969: Nur noch 400 Fuss trennen Neil Armstrong und Buzz Aldrin von der Mondoberfläche. Armstrong und Aldrin schalten um auf manuelle Steuerung um bereiten sich auf die Landung vor. Noch 100 Fuss. Auf der anderen Seite der Landefähre wird eine Oberfläche erkennbar, Krater, viele Krater, auf einmal nur noch Staub, dann ein lauer Knall. «Houston this is eagle, do you copy?» Der Funkspruch verliert sich im Weltall, der Adler ist kaputt, der Sauerstoff reicht noch für zwei Stunden.
Was macht man mit zwei Stunden Sauerstoff auf dem Mond und der Gewissheit, von dort niemals mehr lebendig zurückzukehren? Die Klangkulisse verdüstert sich, inmitten der unendlichen Leere entwickelt sich zwischen Armstrong und Aldrin ein philosophisches Kammerspiel. Am Ende kritzeln die Explorer eine Botschaft in die staubige Mondoberfläche. Es ist eine Nachricht für die Ewigkeit. Aus dem Off hört man die Stimme eines Sprechers:
«Fate has ordained that the men who went to the moon to explore in peace will stay on the moon to rest in peace. These brave men, Neil Armstrong and Edwin Aldrin, know that there is no hope for their recovery. But they also know that there is hope for mankind in their sacrifice. These two men are laying down their lives in mankind’s most noble goal: the search for truth and understanding.»
Chelsea, vierundzwanzigste Strasse zwischen der neunten und zehnten Avenue. London Terrace, das Backsteingebäude, das hier steht, war einst der grösste Apartmentkomplex der Welt. Als Armstrong und Aldrin am 20. Juli 1969 ihre Füsse auf den Mond setzten und bald darauf wieder heil zurück auf die Erde kehrten, ratterten gleich um die Ecke die Güterzüge der West Side Freight Line durch die Strassenschluchten. Seit ein paar Jahren ist die Hochbahnstrasse als High Line bekannt, als grünes Band, das von Norden nach Süden durch Chelsea führt und jeden Tag von Tausenden Touristen durchwandert wird. Jonathan Mitchell sitzt in seinem Apartment auf einem Sofa, Hornbrille, Dreitagebart, die Füsse angewinkelt. Der Dialog zwischen Armstrong und Aldrin nach der gescheiterten Mondlandung stammt aus seiner Feder. Die Rede allerdings ist echt. Sie wurde im Jahr 1969 für Richard Nixon geschrieben und ist in der Schublade der Geschichtsschreibung verschwunden. Titel: «In event of moon disaster».
Jonathan Mitchell liebt es, in seinem Podcast «The Truth» die Was-wäre-wenn-Frage zu stellen. Was wäre, wenn Apollo 11 gescheitert wäre? Wie würde man heute über Fortschritt und Technologie nachdenken? Wer Mitchells Podcast auf dem Smartphone hört, sieht auf dem Display eine braune Pfeife aufleuchten – eine Anlehnung an den Surrealisten René Magritte: Ceci n’est pas une pipe. Der Name «The Truth» geht zurück auf ein Zitat des Philosophen Ralph Waldo Emerson: Fiction reveals truth that reality obscures. Das Gespräch mit Mitchell dreht sich um die Polit-Fernsehserie Borgen, die in ihrem Heimatland Dänemark ein beispielsloser Erfolg war. In Borgen wurde der dänischen Gesellschaft jeden Sonntagabend eine fiktive Premierministerin vorgeführt, sie konnten sehen, wie sie regiert, wie sie leidet, wie sie versucht, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen, und sich bei alledem treu zu bleiben. Ein Jahr später wählte die dänische Bevölkerung mit Helle Thorning-Schmidt zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Frau an die Spitze. Borgen ist eine Illustration für Mitchells These: «Es gibt Wahrheiten, die mit nonfiktionalen Geschichten nicht ausgesprochen werden können. Die Fiktion erlaubt uns, alternative Realitäten erkunden und die menschliche Befindlichkeit in einer ganz anderen Art und Weise auszuleuchten.»
Mitchell setzt alles daran, mit fiktionalen Geschichten möglichst nahe an die Realität zu kommen – oder zumindest an eine Realität, die sich für seinen Zuhörer echt anfühlt. Wenn dieser die Augen schliesst und auf seinem Smartphone Play drückt, dann soll er Teil des Geschehens werden. «Jeder Podcast braucht eine Identität, etwas, worauf der Hörer bauen kann. Bei „The Truth“ erzähle ich Geschichten mit Ton. Radio ist ein sehr musikalisches Format, aber das geht weit über die Möglichkeit hinaus, Musik zu spielen.»
Auf dem Stubentisch liegt ein Buch, The Making of Brazil. Wenn es darin um den Film hinter dem Film, den Film im Kopf geht, dann geht es bei Mitchell um das Filmemachen ohne Bilder. Als Kind war er besessen von einer Schallplatte mit dem Titel The Story of Star Wars. Die Platte bestand aus einer gekürzten Version der Soundspur des Films von George Lucas. Mitchell hat sich diese Platte immer und immer wieder angehört, obwohl er den Originalstoff gar nicht kannte. « Die Soundspur hatte eine Ästhetik, die weit über das hinausreichte, was ich von Hörspielen kannte.», sagt Mitchell. Ein paar Jahre später produzierte das öffentliche Radio NPR eine eigenständige Hörspielversion von Star Wars, die viel länger und detaillierter war als The Story of Star Wars. Mitchell hasste sie, sie hatte einfach nicht die gleiche Tiefe. Weshalb aber nicht gleich einen Film schauen, wenn es das Ziel von «The Truth» ist, möglichst nahe an das Filmerlebnis zu kommen? Mitchell zögert nicht lange: «Bei einem Podcast wird man gezwungen, sich eine Szene vorzustellen. Dabei knüpft man an Dinge an, die man vorher gesehen und erfahren hat – das Bild, das im Kopf entsteht, ist dem Hörer sofort vertraut. Auf diese Weise entsteht eine viel engere Beziehung zwischen Produzent und Rezipient als im Kino.»
Mitchell hat kürzlich den Tweet eines Fans retweeted: My favorite way to listen to @TheTruthFiction is with my head under the covers and my eyes closed like a little kid. Absorbingly perfect. Um diese Perfektion zu erreichen, arbeitet er mit einer Gruppe von vier bis fünf Autoren, die er einmal in der Woche trifft. Ist ein Stoff reif, dann castet er Schauspieler, viele davon stammen aus dem Umfeld des Improvisationstheaters Magnet, das ein paar Blocks oberhalb von Chelsea Richtung Times Square liegt. Zuerst werden mehrere Takes aufgenommen, bis Mitchell die Schauspieler bittet, das Skript wegzulegen und die Szene in eigenen Worten einzusprechen. Wenn eine Szene im Café spielt, dann wird im Café aufgenommen. Wenn eine Szene im Wald spielt, dann packt Mitchell seine Schauspieler in ein Auto und fährt so lange ins Grüne, bis der Lärm der Stadt verstummt ist. Mit dem so entstandenen Rohmaterial verschwindet Mitchell im Studio, und seine Arbeit als Geschichtenerzähler beginnt erst richtig. Der Schnittraum befindet sich im Zimmer nebenan. Und Mitchell macht hier auch regelmässig Aufnahmen. Mitchell zeigt auf die Eingangstür. Daran klebt ein Kleber von Obamas letzter Präsidentschaftskandidatur, um die Türklinge hängen Badges von diversen Audio-Festivals. «Diese Tür hat etwa in der Hälfte aller Podcasts einen Auftritt – jedes Mal wenn in einer Geschichte eine Tür zugeschlagen wird, ist es diese.»
Die zugeschlagene Tür kann auch Motto für Mitchells Leben als unabhängiger Podcaster dienen. Niemand im öffentlichen Radio wollte seine Show ins Programm aufnehmen. Und es scheint, als hätte Radiotopia zur richtigen Zeit an die richtige Tür geklopft. Die Mitgliedschaft im Netzwerk ermöglicht es Mitchell, zu tun, woran ihm liegt, ohne Kompromisse einzugeben. «Im öffentlichen Radio bräuchte ich eine Erlaubnis für jede einzelne Geschichte. Und zu den allermeisten würden die Verantwortlichen wahrscheinlich nein sagen. Aber für mich gibt keinen Grund, eine Geschichte zu erzählen, wenn dabei nichts auf dem Spiel steht.»
Das Publikum, das über Mitchells Karriere mitentscheidet, sagt bis jetzt nicht nein zu seiner Risikobereitschaft: Alleine im ersten Radiotopia-Jahr konnte Mitchell seine Hörerschaft vervierfachen, auf etwa 100’000 Hörer pro Episode. Die Hälfte der Einnahmen kommen aus der Werbung, je grösser die Hörerschaft, desto grösser Mitchells Verdienst: «Wenn ich Geld mit Werbung verdienen kann, ist dies die bestmögliche Perspektive für mich. Es ermöglicht mir Unabhängigkeit. Wer mir im öffentlichen Radio einen Sendeplatz geben kann, kann mir diesen auch wieder wegnehmen.» Zu den Werbeeinnahmen kommt das Geld aus dem Radiotopia-Kickstarter und ein Stipendium der Knight Foundation, die sämtliche Radiotopia-Podcasts unterstützt: «Momentan werde ich mit meiner Arbeit zwar nicht reich, aber ich verdiene genug Geld, um davon zu leben. Und ich kann alle Leute bezahlen, mit denen ich zusammenarbeite.»
Das Schälen der Zwiebel: Brendan Baker, «Love + Radio»
Diane steht am Fenster. Sie schaut nicht in ihren Garten, nicht in den Himmel, sondern in das Apartment auf der anderen Seite der Strasse. Ein Fenster, dahinter Licht. Keine Vorhänge. 15 Jahre lang war das Fenster einfach nur ein Fenster. Seit ein paar Wochen ist dieses Fenster alles, woran Diane denken kann – für sie ist das Fenster eine Leinwand. Die Protagonisten: Ein junges Paar, etwa zwanzig, beide gut gebaut, immer verliebt, meistens nackt. Diane überlegt sich, ein Schild zu machen: Kauft euch Vorhänge! Oder selbst die Vorhänge zu ziehen. Doch sie macht kein Schild, sie zieht die Vorhänge nicht. Sie holt den Feldstecher.
Zwei Jahre und acht Monate später: Eine Frau sitzt im gleichen Fenster, nackt, übergewichtig, mit schweren Schultern, ihr Blick ruht auf der Strasse. Ein paar Tage später steht ein Mann neben ihr, spindeldürr, ohne Haare. Irgendeinmal merkt Diane: Es ist das gleiche junge verliebte Paar, aber der junge Mann ist krank. Eines Tages steht der junge Mann nicht mehr auf.
Als er stirbt, brennen im ganzen Raum Kerzen, und nur drei Menschen sind bei ihm: Seine Mutter, seine Freundin – und Diane auf der anderen Seite der Strasse. Sie legt den Feldstecher auch dann nicht weg, als der Bestatter und sein Assistent ankommen und sich weisse Plastikhandschuhe überziehen. Ihre Stimme beginnt zu zittern, als sie sagt: Ich hatte keinen Platz in dieser Szene, ich hatte keine Bedeutung in seinem Leben, ich weiss nicht einmal, wie er hiess. Auf dem Briefkasten stehen nur Zahlen.
«Wir wissen, dass wir die richtige Geschichte für unseren Podcast gefunden haben, wenn wir selbst nicht hundertprozentig sicher sind, was wir über den Protagonisten denken sollen.» Brendan Baker, die eine Hälfte hinter dem Podcast Love + Radio, sitzt auf einem Sofa in einem Café in Crown Heights, Brooklyn, hellblaues Hemd, schwarze Stoffkrawatte, eine Brille mit runden Gläsern, dahinter ein wacher Blick. Baker nennt die Protagonisten seines Podcasts „morally ambiguous“. Das heisst: Wie ihr Verhalten moralisch einzuordnen ist, ist dem Hörer überlassen, einfache Antworten gibt es nicht. Bei der Episode «The Living Room», in der eine Frau von ihrer Obesssion mit einem sterbenden Mann berichtet, lauten diese Fragen: Darf man das, seine Nachbarn ausspionieren? Darf man das, traurig sein über den Tod eines Mannes, in dessen Leben man nichts verloren hat? Und schliesslich: Darf man das, diese Geschichte öffentlich ausbreiten? Eine Episode von Love + Radio ist nicht nur ein Blick in ein anderes Leben, sondern auch in Blick in den Spiegel: Man wird gezwungen, das Gehörte mit dem eigenen moralischen Kompass abzugleichen, und, wenn dies nicht klappt, sich zu fragen, weshalb man doch nicht auf die Pausentaste drückt.
Ein paar Tage nach dem Gespräch mit Baker wird die Episode «The Living Room» von der öffentlichen Radiostation WNYC in der populären Sendung Radiolab ausgestrahlt. Die Wogen gehen hoch, auf der Website gehen über 200 Kommentare ein: This is not journalism. This is snuff. Oder: Found this creepy, perverse with a lack of morality. Quite terrifying obsession, incredibly discomforting. Aber auch: Fascinating perspective on the human condition, on love, on obsession, on death, on shame, on grief, on guilt. Und schliesslich immer wieder die Frage, die sich bei jeder gut erzählten Geschichte aufdrängt: Ist sie wirklich wahr?
Dabei ist «The Living Room» für Love + Radio-Standards eine eher zarte Geschichte. Einem grösseren Publikum wurde der Podcast mit der Geschichte eines Stripclub-Besitzers aus Detroit bekannt, Jay Thunderbolt, der dem Journalisten während des Interviews in angetrunkenem Zustand eine Pistole ins Gesicht hält – um kurz darauf zu erzählen, wie er sich mit dem Erlös aus seinen Geschäften für wohltätige Zwecke engagiert. «The Wisdom of Jay Thunderbolt» war Bakers erste Kollaboration mit Nick van der Kolk, dem Erfinder und Kopf von Love + Radio. Baker hat in Minnesota englische Literatur und Komposition studiert, van der Kolk wurde ihm von einer gemeinsamen Freundin vorgestellt. Baker erinnert sich: «Nick sagte zu mir: Ich habe eine Aufnahme von diesem Typen, einem Stripclub-Besitzer aus Detroit. Es ist eine ziemlich verrückte Geschichte, aber es noch nicht wirklich eine Geschichte. Schau doch einmal, ob du daraus etwas machen kannst. Tob dich aus.» Baker hat die Original-Aufnahme verstückelt, einen elektronischen Klangteppich darunter gelegt und am Mischpult mit der Stimme von Thunderbolt experimentiert. Entstanden ist eine dokumentarische Soundcollage, die im Jahr 2011 am Third Coast-Festival, das auch als Sundance Festival der Radioindustrie bezeichnet wird, mit dem ersten Preis in der Kategorie Documentary ausgezeichnet wurde.
Seither sind Nick van der Kolk und Brendan Baker gemeinsam Love + Radio. Van der Kolk zieht durch die Welt und spürt Geschichten auf, die Baker in Brooklyn in seinem Heimstudio zu Podcast-Episoden verarbeitet. Was Baker und van der Kolk verbindet, ist eine Dropbox – und die Leidenschaft, unerhörte Geschichten zu erzählen. Oft arbeiten sie mit freien Journalisten zusammen, die ihnen Soundfiles zuspielen, mit der wachsenden Popularität werden ihnen auch immer wieder Geschichten von Hörern unterbreitet – was für Baker Fluch und Segen ist: «Viele Leute treten mit düsteren Geschichten an uns heran. Sie verstehen nicht, dass es uns nicht um die Intensität, sondern um die Nuancen geht. Unser Ziel ist es, die Zwiebel solange zu schälen, bis wir im Kern eines Charakters angekommen sind.»
Beim Schälen der Zwiebel begegnen sich Narration und Sound im besten Fall auf Augenhöhe. Was bei anderen Podcasts beim Schnitt zum Opfer fallen würde, wird bei Love + Radio in den Fokus gerückt. Der Klang, wenn Jay Thunderbolt sich während des Interviews Tequila nachschenkt. Der Moment, wenn die Stimme von Diane auf einmal zittrig wird. Zwei Produzenten, ein Mikrofon, eine gute Geschichte. Und Radiotopia als Katalysator: Baker bestätigt im Gespräch, was vor ihm bereits die anderen zwei Radiotopians erzählt haben: Die Hörerschaft wächst, das Werbegeld fliesst, es reicht, um die Miete in New York zu decken. Doch gibt es ein goldenes Zeitalter für Podcasts? Baker ist auf die Frage vorbereitet: «Es ist sicher eine gute Zeit für Podcasts, aber ist es deshalb ein goldenes Zeitalter? Das suggeriert doch, dass es nicht anhalten wird.»
Epilog
Linie 3, auf dem Rückweg von Brooklyn nach Manhattan: Die U-Bahn rumpelt, der Platz ist eng. Die U-Bahn hält, Station Chambers Street – World Trade Center / Park Place. Wir wachsen mit den Geschichten, die wir mitschreiben, die sich in uns einschreiben und wir uns in ihnen, Geschichten strukturieren Gedanken und Gedächtnis, Geschichten weisen uns einen Platz in Zeit und Welt zu. Und immer mehr Geschichten landen als Podcasts auf den Smartphones der Menschen, die hier ein- und aussteigen. Diese Geschichten nisten sich über das Ohr ins Bewusstsein ein, die Augen können dabei geschlossen bleiben. Damit steht der Podcast quer in unserer Zeit: Kein Bild, kein Hyperlink, kein real-time Update. Dafür: Lange, lineare Geschichten, welche die volle Aufmerksamkeit des Hörers verlangen. Der Podcast als Format für Geschichten, die ohne Kopfhörer vom Lärm des Alltags aufgefressen würden. Wie die Insel in den Strömen und Fluten durcheinanderfliessender Aufmerksamkeit. Wie das Fenster in eine andere Welt.
Acht Minuten später hält die U-Bahn in der vierzehnten Strasse, drei Blocks entfernt vom Eugene Lang College, wo Heather Chaplin in ein Sandwich biss und sagte: «Die Medienwelt wurde in den letzten Jahren dermassen durchgeschüttelt, dass man sich Fragen muss, was wir künftig überhaupt noch unter dem Begriff „Journalismus“ verstehen werden. Ich bin überzeugt, dass wir den Fächer öffnen müssen für neue Arten von Journalismus – solange sie uns ein besseres und ehrlicheres Verständnis geben für die Welt, in der wir leben. Aber ich weiss im Moment auch nicht, wie man das definieren könnte.» Heather Chaplin jedenfalls hat Benjamen Walker eingeladen, ein Modul in ihrem «Journalism + Design»-Programm zu unterrichten. Ausgerechnet Benjamen Walker, der Mann, der von sich behauptet, alles andere als ein Journalist zu sein und der virtuos auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Fiktion balanciert.
Walker und das gesamte Radiotopia-Kollektiv sind angetreten, neue Ansätze zu liefern, was Journalismus auch noch sein könnte – mit Geschichten, die im öffentlichen Radio einen schweren Stand hätten. Weil sie mit der Wahrheit spielen oder weil sie in Form und Inhalt den Rahmen sprengen von dem, was im öffentlichen Radio denkbar ist. Ist das noch Journalismus? Vielleicht. Kommt darauf an, wen man fragt. Was man weiss: Der Erfolg von Radiotopia zeigt, dass es Hörer und Geldgeber gibt, die bereit sind, die Risiken zu tragen, welche die Produzenten eingehen. Wird damit nach der Zeitung, nach der Plattenindustrie, nach den Taxis und den Hotels nun auch das öffentliche Radio vom Internet überrollt? Die Ironie der Geschichte ist, dass ausgerechnet Serial, ein Podcast, der von einer öffentlichen Radiostation produziert und ins Netz gestellt wurde, die Tür öffnete für unabhängige Podcasts wie Theory of Everything, The Truth oder Love + Radio – weil mit Serial einem grossen, breiten Publikum aufgezeigt wurde, was mit dem Format Podcast überhaupt möglich ist. Man könnte sagen: Die Radiotopia-Geschichten waren unerhört, bis Sarah Koenig die letzen drei Sätze der letzten Episode von Serial ins Mikrofon sprach, die mit dem Glauben an die Macht von Wahrheitsfindung durch Recherche aufräumen: «Just tell me the facts ma’am – because we didn’t have them 15 years ago, and we still don’t have them now.»
Metareporter Longform ist eine Text-Reihe mit Reportagen, welche Hotspots des Wandels in Kultur, Medien und Gesellschaft untersuchen. Der vorliegende Text entstand innerhalb des von Frédéric Martel und Ruedi Widmer betreuten „Research Project“ des Master Kulturpublizistik.
Michael Fässler ist Autor und Kommunikationsexperte. Er schloss den Master Kulturpublizistik 2015 ab.