von Philipp Spillmann –
Der Journalismus muss nicht objektiver werden. Im Gegenteil, er muss sich seine Subjektivität bewahren. Gerade die Person des Reporters beweist das. Ein Plädoyer.
Als Trump-Pressesprecher Sean Spicer im Januar 2017 behauptete, mehr Menschen als je zuvor seien zur Antrittsrede des Präsidenten gekommen, kursierten längst diverse Bilder, die das Gegenteil belegten. Spicer bezichtigte die Medien nicht nur der falschen Berichterstattung; er sagte später auch, dass man sich eben manchmal nicht über Fakten einigen könne. Was ein Fakt ist, ist demnach lediglich eine Frage der Interpretation. Postfaktisch nennt man im Anschluss an einen Essay der US-Historikerin Jill Lepore die Situation, in der eine solche Auffassung zunehmend den öffentlichen Diskurs dominiert. Dieser Auffassung zufolge sind gerade die Medien mit ihrem unbedingten Anspruch auf Objektivität die grössten Wahrheitsverdreher überhaupt.
Diese Haltung ist gefährlich. Erstens weil politische Akteure aus ihr Kapital schlagen. Zweitens weil sie sich darüber ausschweigt, was es bedeutet, Wahrheit subjektiv auszusprechen. Und drittens, weil sie den Journalismus nicht als Instanz anerkennt, welche die Wahrheit gewährleisten kann. Das Vermögen von Journalisten, Wahrheit zu gewährleisten, beruht aber nicht nur auf Objektivität, sondern auch auf Subjektivität. Wer eine Reportage schreibt, sollte das Beobachtete im Text wirklichkeitsgetreu wiedergeben. Doch das setzt voraus, dass das Beobachten selbst real war und nicht etwa eine Halluzination. Während aber Objektivitäts-Ansprüche- und -Garantien durch Berufsethik und ‑kodex geregelt werden, steht die subjektive Wahrheitsgarantie auf einem viel wackligeren Fundament: sie basiert auf Konventionen über die Fähigkeit, überhaupt urteilen zu können. Gerade diese Konventionen stecken in der Krise, wenn ein Politapparat wie derjenige Donald Trumps von „alternativen Fakten“ spricht, wie das Kellyanne Conway im Anschluss an Spicer getan hat.
Es lohnt sich also, dem subjektiven Fundament journalistischer Wahrheit einmal nachzugehen. Besonders geeignet dafür ist das Genre der Reportage, denn wie keine zweite journalistische Gattung ist sie darauf angewiesen, dass die Reporter*In selbst beobachtet hat, worüber sie schreibt. Einer, der dazu besonders dezidiert Stellung nimmt, ist der Kriegsfotograf James Nachtwey. In seinen Texten findet sich eine Theorie des Reporters, die, obwohl sie in den Grundzügen nicht neu ist, einen Ausweg aus der Krise der subjektiven Wahrheit bieten könnte.
Für den Leser in den Krieg
Kurz bevor er der renommierten Agentur Magnum beitrat, formulierte Nachtwey in einem Credo, was ihn zu seiner Tätigkeit antreibt. Eine Stelle ist hier besonders aufschlussreich: „Wenn die Menschen selbst dort sein und die Angst und das Leid wenigstens einmal mit eigenen Augen sehen könnten“, dann würden sie verstehen, dass nichts auf der Welt es wert ist, solches Leid zu verursachen. „Aber nicht jeder kann dort sein“, fährt er fort, „und genau deshalb gehen die Fotografen dorthin“. Der Reporter kann den Leser auf dem Schlachtfeld als Beobachter ersetzen, weil er mit eigenen Augen bezeugt und als Bild festhält, was sich dort abspielt. Insofern ist er nicht distanzierter Beobachter, sondern involvierter Teilnehmer. Er berichtet über Ereignisse, nur insofern diese auf ihn einwirken: „Ich bin ein Zeuge und diese Bilder sind mein Zeugnis“, schreibt Nachtwey auch heute noch auf seiner Webseite, dreissig Jahre nach dem Verfassen seines Credos.
Nachtweys Reporter ist also prinzipiell ein Zeuge. Seine Zeugenschaft ist nicht etwas, was man wie eine Kamera ein- oder abschalten kann. Sie betrifft seine gesamte Person: Der Reporter wurde zum Zeugen, er ist Zeuge, er bleibt Zeuge – „I have been a witness“ heisst es im englischen Original. Die Zeitform verweist auf ein Ereignis in der Vergangenheit, das bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Zeugenschaft entspringt also einem Ereignis, das sich, ähnlich einem Trauma, in die Person des Reporters einschreibt.
Die Wahrheit, die Nachtweys Reporter spricht, bezieht sich ausschliesslich auf eine Erfahrung. Sein Zeugnis ist nicht deshalb wahr, weil es etwas Reales wiedergibt, sondern weil es einer wahrhaften Erfahrung entspringt. Mit anderen Worten: Nachtweys Reporter garantiert nicht die korrekte Repräsentation der Ereignisse, sondern deren aufrichtige Wiedergabe. Für die Wahrhaftigkeit seines Zeugnisses bürgt der Reporter rein subjektiv. Das heisst nicht, dass es für seine Reportage belanglos ist, ob er das Beobachtete wirklichkeitsgetreu wiedergibt. Es ist aber unerheblich dafür, ob und wie er rein subjektiv Wahrheit garantiert.
Nachtweys Reporter zeichnet sich dadurch aus, dass er selbst der lebende Beweis dessen ist, worüber er berichtet. Er ist verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, allerdings nur jene Wahrheit, die er mit eigenem Leib erlebt hat. Er muss sich nicht nur um Objektivität bemühen, sondern auch in seiner Subjektivität aufrichtig bleiben. Für seine Fähigkeit, aufrichtig zu sprechen, bürgt er mit dem Einsatz seiner eigenen Person. Das Zeugnis für falsch zu erklären bedeutet, den Reporter als Zeugen zu leugnen, was in Nachtweys Formel gleichbedeutend damit ist, seine Person zu leugnen, da die Zeugenschaft zu seiner Person gehört.
Subjektivität vs. Antiobjektivität
Nachtweys Formel kann natürlich keinen journalistischen Objektivitätsanspruch und keine Presseethik ersetzen. Aber sie ergänzen. Wenn, wie Lepore in ihrem Essay schreibt, Vernunft die Basis für das Verhandeln und Feststellen objektiver Wahrheit ist, kann mit der Figur des Zeugen angefügt werden, dass das Einschneidende oder Traumatische des Erlebens ein Fundament für subjektive Wahrheit ist. Wenn also Akteure wie Spicer behaupten, dass Fakten etwas rein Subjektives sind und Journalisten damit Dinge zu Tatsachen machen, die keine sind – also Ideologie betreiben –, kann man mit Nachtweys Formel dagegenhalten, dass es nach wie vor eine nichtbeliebige Subjektivität gibt, die der Journalismus garantieren kann.
Für diese Subjektivität kommt es nicht darauf an, was es heisst, dass ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat, sondern dass jemand tatsächlich dabei war, als es stattgefunden hat. Daraus entsteht die Verantwortung, die besondere Subjektivität des Zeugen als einem Beobachter, in den sich das Beobachtete eingeschrieben hat, von anderen Formen des Beobachtens zu unterscheiden. Es geht deshalb nicht darum, mit allen Mitteln zu verhindern, dass Wahrheit in die Subjektivität entgleitet, sondern, dass ihre subjektive Basis nicht entwertet wird. Der Journalismus muss nicht objektiver werden. Er muss sich seine notwendige Subjektivität bewahren.
Philipp Spillmann studiert im Master Kulturpublizistik.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.