Der Printjournalismus und mit ihm auch die Filmkritik sehen sich mit drastischen Veränderungen konfrontiert. Vielleicht besser denn je ermöglichen es die digitalen Produktions-und Rezeptionsweisen jedoch, uns als Gesellschaft auf einer globalen Ebene zu beobachten. In dieser Sektion fragen wir nach dem Potential einer Kritik des bewegten Bildes im digitalen Raum.
von Jacqueline Beck –
„Was heisst hier Ende?“ lautet der Titel eines Dokumentarfilms, der 2015 an der Berlinale als Hommage an den 2011 verstorbenen Filmkritiker Michael Althen gezeigt wurde. Und „Was heisst hier Ende?“ fragen wir in Bezug auf eine Filmkritik, die in den Aussagen der auftretenden Redakteure und Filmschaffenden nur noch als Nachspann einer vergangenen glorreichen Zeit erscheint. «Was heisst hier Ende, wenn das Glück der Liebenden doch erst beginnt?», sinnierte Althen 2002 in einem Text. Und genauso, wie sich Geschichten nach dem Finale weiterentwickeln, beginnt beim Verlassen des Kinos die Auseinandersetzung mit einem Film – und damit die Kritik. Für Filmfans könnte das Glück im Zeitalter des Internets erst richtig begonnen haben. Noch nie wurden mehr Filme und Serien produziert und dank digitaler Verteilkanäle global verfügbar gemacht. Auch war es noch nie so einfach, sich über Filme zu informieren, seineÜberlegungen dazu in eine Form zu bringen und diese mit anderen zu teilen. Doch es scheint schlecht zu stehen um die Filmkritik. 2007 verkündete der irische Literaturwissenschaftler Rónán McDonald den „Tod des Kritikers“ (McDonald 2007), und 2009 belegte der Filmjournalist Sean P. Means die Diagnose mit einer Liste von 55 amerikanischen Berufskollegen, die zwischen 2006 und 2009 ihren Job verloren hatten (Means 2009). Fast zeitgleich verfasste der langjährige NZZ-Filmredaktor Christoph Egger im Zuge seiner Frühpensionierung den „Abschied von der Filmkritik“. Die «leider bereits legendäre Filmredaktion der NZZ», kommentierte SRF-Experte Michael Sennhauser auf seinem Blog, «die schon in den letzten Jahren massiv zusammengestrichen wurde, hört faktisch auf zu existieren».
Umbruch im Printjournalismus
Man stellt also fest, dass es sich zunächst einmal um einen Abschied von der Filmkritik in Form von fest installierten Redaktionen bei den grösseren Tages-und Wochenzeitungen handelt. Die Ursache für das Dahinscheiden ist in den Worten von Christoph Egger schnell zusammengefasst: «Die gegenwärtige Wirtschaftskrise, die sich als konjunkturelle mit der durch das Internet repräsentierten Strukturkrise verbündet, um so den (Tages-) Zeitungen die Anzeigenerträge gleich doppelt wegbrechen zu lassen». Bis heute haben die traditionellen Medienhäuser kein nachhaltiges Finanzierungsmodell für den Online-Journalismus gefunden – die Sparmassnahmen im redaktionellen Bereich halten bei den meisten Verlagen an. Für Printjournalisten in Filmbereich haben sich die Arbeitsbedingungen dadurch massiv verschlechtert. Es gibt kaum noch Festanstellungen – wenn, dann zu kleinen Teilzeitpensen –, die Honorare für Freelancer sind tief und das Produzieren für mehrere Kanäle oder gar Publikationen mit Ton, Bild und Text verkürzt die Zeit, die man effektiv für die Auseinandersetzung mit einem Thema zur Verfügung hat. Nicht nur aber ringen die Filmkritiker um Zeit, sondern auch um Platz: «Interview, Porträt, gelegentlich auch der Drehbericht sind als beliebte Textsorten weit verbreitet, dienen jedoch zunehmend dazu, die Kritik zu ersetzen», schreibt Christoph Egger. Während der Kulturteil in vielen Zeitungen vom Bund auf wenige Seiten dezimiert wurde, muss die klassische Filmbesprechung nunmehr ihren Platz mit People-Stories und Lifestyle-Analysen teilen. «Am offensichtlichsten ist aber die Konkurrenz all der Ausgeh-und Stadtmagazine, deren zentrales Vehikel der Tipp ist: kurz, bündig und gern mit Sternchen versehen». Kommerzialisierung und Oberflächlichkeit stehen als Drohkulisse da, während mit dem Gang ins Internet die Verteidigung der eigenen Stellung in einen nahezu grenzenlosen Kampf um Aufmerksamkeit umgeschlagen hat.
Neue Protagonisten im Feld der Kulturpublizistik
Im Internet kann grundsätzlich jeder Filmkritiker sein. Aber er hat auch grundsätzlich erst einmal gar kein Publikum. Kinogänger und Cinephile stützen sich nicht mehr selbstverständlich auf den Lokalanzeiger oder das einmal monatlich ins Haus gelieferte Fachmagazin. Und so konkurriert der Filmjournalist im Netz nicht nur mit den online zur Verfügung gestellten Inhalten anderer Zeitungen, Zeitschriften und Magazine. Er konkurriert ebenso mit Serviceseiten wie cineman.ch oder imdb.com, die Info, Promo, Reviews und Community an einem Ort vereinen. Sie dienen vielen Surfern als erste Anlaufstelle – und bleiben häufig auch die einzige. Denn Aufmerksamkeitsspanne und Zeit sind begrenzt. Nicht zuletzt aber konkurriert der traditionelle Filmjournalist online mit der Figur des Bloggers, der in einer Neuinterpretation von Leserschaft sein eigenes Netz des „Following“ um sich spannt. Interessierte folgen seinen Text-, Ton-oder Video-Beiträgen per RSS-Feet oder auf Twitter, abonnieren seinen Youtube-Kanal und befreunden sich auf Facebook – und er selbst vergrössert seine Reichweite, indem er Verbindungen zu anderen aufbaut, Inhalte teilt und mit jedem Knoten sichtbarer wird. In manchen Kommentaren erscheint dieser „Netz-Weber“ denn auch als Parasit: ein Parasit, der das Objekt seiner Begierde einfängt – und es in der Folge seiner Essenz beraubt. Weil er über mangelndes Fachwissen verfügt und dem Credo der Schnelligkeit folgt, wird er seinem Inhalt nicht mehr gerecht: Er folgt dem Reflex statt der Reflexion.
Wer wird ernst genommen?
«By offering an alternative deluge of fans’ notes, angry sniping, half-baked impressions, and clubhouse amateurism, the Internet’s free-for-all has helped to further derange the concept of film criticism performed by writers who have studied cinema as well as related forms of history, science, and philosophy», schrieb Armond White als Vorsitzender des New Yorker Film Critic Circles 2010 in einem Beitrag. «This also differs from the venerable concept of the “gentleman amateur” whose gracious enthusiasms for art forms he himself didn’t practice expressed a valuable civility and sophistication, a means of social uplift. Internet criticism has, instead, unleashed a torrent of deceptive knowledge, “a form of idiot savantry” usually based in the unquantifiable “love of movies”». In Tat und Wahrheit bietet das Internet Raum für jegliche Form der Film-Rezeption: Von hochgehaltenen Daumen und verfaulten Tomaten, über 140-Zeichen-Rezensionen (die durchaus auch ernst genommen werden wollen, wie die 2017 an den Solothurner Filmtagen erstmals vergebene Kategorie „Tout court“ des „Prix Pathé“ für Filmkritik zeigt) bis hin zu elaborierten Filmanalysen in Video-Essays. Letztere werden aktuell – etwa am Filmfestival Locarno – als die neue Reflexionspraxis diskutiert, «in der die Interessen und die Kenntnisse von Filmexperten und -liebhabern effektiv verknüpft werden können» (Ankündigungstext zur Round Table „Film Criticism in Motion“).
Reproduktion alter Mechanismen in der Online-Kritik
Tatsächlich zählt etwa das meistgesehene Video von Tony Zhou, einem der bekanntesten Essayisten in den USA – wo sich das Genre schon früher als in Europa verbreitet hat – über 9 Millionen Aufrufe. Während Video-Essays erstmals mit den Mitteln des Films selbst dessen Produktionsweise und ästhetische Umsetzung ergründen, reprozieren viele andere Formen der Online-Kritik, was es bisher schon in Radio, Fernsehen oder Print gab. «According to Claudio Bisoni, the web and the digital do not guarantee that the style and language of traditional criticism will be challenged», schreiben Giacomo Manzoli und Paolo Noto in ihrem Fazit zu einer Analyse von italienischsprachigen Vlogs, «they will not reinvent criticism’s assessment tools but instead provide opportunities through which those who do not have access to certain cultural institutions are allowed to reproduce the dynamics found elsewhere: being the expert, playing the role of indisputable authority, enjoying intellectual prestige, and so on, in a kind of pop reappropriation of the “expert” paradigm» (Manzoni-Noto 2015, 112f). Beim Tod der Filmkritikers geht es also auch um den vermeintlichen Abschied von einer Autorität und Deutungshoheit, die sich einer zwar journalistisch oder akademisch zunächst verdienen musste, mit dem Erreichen einer gewissen Position aber kaum noch zu verteidigen hatte. Wie der Film-und Medienwissenschaftler Mattias Frey in einer Analyse des Filmbewertungsportals Rotten Tomatoes jedoch zeigt, werden diese Mechanismen durchaus auch im Internet aufrechterhalten (Frey 2015): Filme erhalten etwa die Auszeichnung „Certified Fresh“ nur dann, wenn sie von 75% der „Approved Tomatometer Critics“ empfohlen sind, darunter fünf „Top Critics“. Die Einstufung beruht auf einem Akkreditierungs-System, das die berufliche Position und Reputation eines Kritikers bemisst. «From the very first film critics», hält Frey fest, «including the early trade press through the postwar leading organs of film criticism, the worry over a loss of status, as well as the “dumbing down” of film criticism, has continually reappeared in remarkably consistent language» (Frey 2015, 83). Die Geschichte hat gezeigt, dass jeder grössere (Medien-) Umbruch von Ängsten und kulturpessimistischen Aussagen begleitet wird. Doch wenn man diese einmal loslöst von der Figur des Kritikers selbst, so geht es im Kern um die Frage, was die digitale Entwicklung mit unserem gesellschaftlichen Bewusstsein macht.
Zwischen Marktlogik und Nischenbildung
«Speaking has become easier», schreibt Frey zu den Online-Publikationsmöglichkeiten, «but being heard is more difficult than ever» (Frey 2015, 95). Wer im Stimmengewirr auf sich aufmerksam machen will, kann zwei Strategien verfolgen: entweder möglichst laut zu schreien, um von möglichst vielen gehört zu werden. Oder sich abzusetzen und einen Kreis von Interessierten um sich zu sammeln, die sich ganz speziell für ein bestimmtes Wissen und eine bestimmte Meinung interessieren. Beide Tendenzen werden mit Sorge betrachtet. Die Promotionsmaschinerie der Filmindustrie droht alles zu übertönen – und wo sich der Filmkritiker schon immer in einem Spannungsfeld von Nähe und Distanz bewegt hat, kann ersich heute einer Ökonomie der Aufmerksamkeit kaum noch entziehen. Die Marktlogik umgreift sowohl Angebot als auch Rezeption: «Filmverleiher und Kinobetreiber haben in den letzten Jahrzehnten das Programmkino aufgegeben und es durch Arthouse ersetzt. Ein alternatives Programm zum Mainstream gibt es fast nirgends mehr», beklagt der Verband der deutschen Filmkritik in seinem „Flugblatt für aktivistische Filmkritik“. Parallel dazu ist die Kritik in einer drastischen Zwangslage: «Um zu reüssieren, muss sie das Denken an vorherrschende Normen und Marktgegebenheiten anpassen. […] Wer das Denken abgibt, verliert die Fähigkeit, Bestehendes in Frage zu stellen». «Wo tendenziell zu viel Information vorhanden ist», bestätigt die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Mercedes Bunz in einem Aufsatz, «lohnt es sich, das Gelungene, Wunderbare und oder Erfolgreiche zur Kenntnis zu nehmen – Misslungenes lässt man lieber dem Vergessen anheim fallen» (Bunz 2014, 271f). Sind wir als Gesellschaft also überhaupt noch fähig, kritisch zu hinterfragen und unterschiedliche Sichtweisen wahrzunehmen? Ja und nein, könnte man mit Blick auf die zweite Strategie im Stimmengewirr antworten. Nischen-Communities bilden sich häufig gerade aus Widerstand zum Mainstream heraus. Spezialisiertes Fachwissen spielt dabei eine wichtige Rolle, entsprechend genau wird hingeschaut und leidenschaftlich debattiert. Nur: Communities bleiben meistens unter sich, der Blick nach draussen und von draussen nach drinnen ist beschränkt.
Was wollen wir sehen?
Was früher beim Durchblättern einer Zeitung geschah oder beim Radiohören, wird durch das personalisierte Suchen und Verfolgen im Internet zur Rarität: das zufällige Entdecken, die Erweiterung des Horizonts. Seiten wie Rotten Tomatoes, die mithilfe von Algorithmen Reviews aus einem globalen Datenbestand aggregieren und verlinken, aber auch handverlesene, ja kuratierte Seiten wie etwa die Facebook-Auftritte von Filmbulletin oder Revolver, die auf beachtenswerte Beiträge ganz unterschiedlicher Quellen verweisen, versuchen diese Lücke zu füllen. Doch insgesamt kann mit Ruedi Widmer, Professor für Kulturpublizistik, angesichts der Filterblasen von einer «implodierenden Taktung der Gesellschaft» (Widmer 2014, 17) gesprochen werden. Gemeinsame Wissensstände, Diskurse und Bewertungen von Relevanz sind nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt. Wenn Focus-Redakteur Harald Pauli in „Was heisst hier Ende?“ also fragt: «Was willst du noch mit Filmkritik?», so fragen wir: «Welches sind wichtige Funktionen und Aufgaben, die Filmkritik im digitalen Zeitalter wahrnehmen soll?». Und wenn Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung beklagt: «Jemand, der sagt, ich hab das Schreiben über Filme neu erfunden, oder ich hab da einen ganz anderen Blick, kommt einfach nicht», so fragen wir nach dem (un-) eingelösten Potential im digitalen Raum. Eine Leidenschaft, die so viele teilen, scheint eine gute Voraussetzung zu sein für einen Dialog, an dem viele teilnehmen. Wo soll er stattfinden? Stellen wir das Ende wieder an den Anfang.
Kurze Bibliografie
Bunz 2014: Mercedes Bunz, „Was ist Kritik im Zeitalter der Digitalisierung?“, in Ruedi Widmer (Hrsg.), Laienherrschaft. 18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien, Diaphanes, Zürich-Berlin 2014. Egger 2009: Christoph Egger, „Abschied von der Filmkritik“, Neue Zürcher Zeitung, 11. Juni 2009; https://www.nzz.ch/abschied_von_der_filmkritik-1.2718348, Zugriff: 6.10.2017 Frey 2015: Mattias Frey, „The New Democracy? Rotten Tomatoes, Metacritic, Twitter, and IMDb“, in Mattias Frey, Cecilia Sayad (Hrsg.), Film Criticism in the Digital Age, Rutgers University Press, New Brunswick 2015. Manzoli-Noto 2015: Giacomo Manzoli, Paolo Noto, „The Price of Conservation: Online Video Criticism of Film in Italy“, in Mattias Frey, Cecilia Sayad (Hrsg.), Film Criticism in the Digital Age, Rutgers University Press, New Brunswick 2015. McDonald 2007: Rónán McDonald, The Death of the Critic, Continuum, London 2007.
Means 2009: Sean P. Means, „The Departed – No. 55, Phil Villareal“, The Salt Lake Tribune, 7. Mai 2009 [Online-Quelle nicht mehr verfügbar]. Sennhauser 2009: Michael Sennhauser, „Abschied eines Filmkritikers von der Filmkritik“, Sennhausers Filmblog.ch, 12. Juni 2009; https://sennhausersfilmblog.ch/2009/06/12/abschied-eines-filmkritikers-von-der-filmkritik, Zugriff: 6.10.2017 Verband der Deutschen Filmkritik, Flugblatt für aktivistische Filmkritik; VDFK Online, 4. Mai 2015; http://www.vdfk.de/news/view/169-flugblatt-fur-aktivistische-filmkritik, Zugriff: 6.10.2017 White 2010: Armond White, „Do Movie Critics Matter?“, First Things, 19. März 2010; https://www.firstthings.com/web-exclusives/2010/03/do-movie-critics-matter, Zugriff: 6.10.2017 Widmer 2014: Ruedi Widmer, „Für Interpretation“, in Ruedi Widmer (Hrsg.), Laienherrschaft. 18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien, Diaphanes, Zürich-Berlin 2014.
Jacqueline Beck ist Alumna des Master Kulturpublizistik. Der Text erschien erstmals auf FILMEXPLORER.