Von Philipp Spillmann –
Kann man über ein Ereignis, das nie stattgefunden hat, eine Reportage schreiben? Das Online-Magazin Krautreporter zeigt, wie das geht, indem es eine Atombombe über Berlin explodieren lässt.
Die Geschichte beginnt mit einem Täter ohne Namen: «Egal, wer angreift: Wenn er es ernst meint, wird er das Zentrum von Berlin angreifen […]. Er wird kühl kalkulieren, ob er die Bombe über Berlin oder in Berlin explodieren lässt.» Das «Er» steht für das «Wer» und dieses wiederum steht für niemand Bestimmten. Es steht für die Abwesenheit eines Täters und für die Abwesenheit des Kontextes, mit welchem das Szenario «Atombombenangriff auf Berlin» zu einer realen Handlung würde. Die Geschichte, die das Online-Magazin Krautreporter hier erzählt, ist keine Reportage über einen nuklearen Angriff und seinen Hintergrund, sondern die Schilderung des Szenarios, was bei einem solchen Angriff geschehen würde.
Im strengsten Sinn handelt es sich bei dieser fiktiven Geschichte also nicht um eine Reportage: Es fehlen das Warum und das Wofür, die Vorgeschichte und der Hintergrund; keines der geschilderten Ereignisse ist wirklich passiert und es gibt keine Person, anhand der die Geschichte erzählt wird. Doch Berlin selbst ist, wenn man so will, der Protagonist in dieser Story – einer Reportage eben, die von fingierten Geschehnissen berichtet. Und genau so ist sie geschrieben: Nahe an dem, was mit der Stadt während der Detonation geschieht. In einem Stil, der mit starken Bildern schildert, wie sich die Druckwelle durch die Strassen frisst, wie die Spree kocht und es den Fernsehturm zerreisst. Es vergehen Millisekunden, Zehntelsekunden, Sekunden. Nach einer Minute ist alles vorbei. Bis auf die Feuerstürme, die noch stundenlang vor sich hin wüten und den Fallout, der noch monatelang niedergeht. Tausende erleiden den Feuertod. Die Mauern sind verkohlt, die Strassen verglüht, ganze Stadtteile weggeblasen. Was bleibt, ist apokalyptisch und surreal. Und genau darum geht es. So absurd der Vorfall klingen mag – unbegründet ist er nicht. Das zeigt der Hintergrund, vor dem Krautreporter diese Geschichte erzählt.
Der Text gehört zu einer Themenwoche, die das Online-Magazin Ende August 2015 lanciert hat. Wie bei einer Serie sind die einzelnen Beiträge in einen Gesamtzusammenhang eingebettet. Es geht um die nukleare Bedrohung heute, über zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges. Genauer: Es geht um die Frage, worin die Bedrohung durch die Kernwaffenarsenale der sogenannten Atommächte überhaupt besteht. Über Kim Jong-un wird nicht geschrieben, dafür über die Legenden, Fakten und Überzeugungen, die seit jeher zu diesem Thema kursieren. Zusammengestellt werden u.a. verschiedene Links zum Thema, ein Portrait über eine neue Generation von Abrüstungsaktivisten und ein Gespräch mit dem Historiker Ward Wilson, der ernste Zweifel an der Theorie der nuklearen Abschreckung hegt.
Nach Wilson haben wir nicht zuletzt deshalb wenig Interesse an der nuklearen Gegenwart, weil wir an diese Theorie glauben. Sie besagt, dass nukleare Waffen aufgrund ihres Zerstörungspotenzials so abschreckend wirken, dass keine Kriegspartei gegen eine Atommacht Krieg führen würde – nicht einmal eine Atommacht selbst. Demnach üben Kernwaffen eine stabilisierende Wirkung auf das weltpolitische Klima aus. So fällt nach dieser Logik nicht ins Gewicht, dass auch heute, bald sechzig Jahre nach der ersten Unterzeichnung des internationalen Atomwaffensperrvertrags, immer noch geschätzte 16’300 intakte Nuklearsprengkörper existieren – mehr als genug, um die Menschheit auszulöschen. Fällt diese Theorie aber, und nach Wilson gibt es zurzeit triftige Gründe dafür, stellt sich die Frage, was wir mit diesen Waffen anfangen sollen.
So nutzt Krautreporter das Szenario des Atombombeneinschlags über Berlin als Auslöser einer Diskussion über die Frage, welches Bewusstsein einer nuklearen Bedrohung unsere Zeit braucht. Mit seiner lebensnahen Schilderung des Szenarios gelingt es dem Text, eine Vorstellung von etwas zu geben, das fast unvorstellbar geworden ist. Und genau dafür eignet sich das Genre der Reportage wohl am besten. Denn sie ist jene Textgattung, die es uns am meisten erlaubt, selbst weit entfernte Dinge schonungslos nacherleben zu lassen.
Philipp Spillmann studiert im Master Kulturpublizistik.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.