Von Lena Rittmeyer
Die einst bestverkaufte Musikzeitschrift der Welt, der britische New Musical Express (NME), wird zum Gratisblatt. Grund dafür ist ein massiver Auflagenschwund: In den Siebzigerjahren verkaufte der NME rund 270’000 Hefte wöchentlich, heute sind es etwa 14’000 Exemplare.
Verändern soll sich auch die inhaltliche Ausrichtung des Magazins. Der NME wird künftig keine Fachzeitschrift für Rock- und Popmusik mehr sein, sondern sich als „Portal zu einer breiteren Konversation über Film, Mode, Fernsehen, Politik, Gaming und Technik“ verstehen, schreibt der Verlag Time Incorporated UK, dem der NME angehört. Die Betreiber wollen ausserdem vermehrt Live-Events organisieren und die Etablierung eines sozialen Netzwerks vorantreiben.
Die Transformation des Popjournalisten
Der NME ist nicht das einzige Popmusikheft, das gegen herben Leserverlust anzukämpfen hat. Stark rückläufig sind die Verkaufszahlen etwa auch bei den deutschen Pop-Magazinen Spex und Musikexpress, wie die „Süddeutsche Zeitung“ am 26. Juli 2015 berichtete. Allerdings ist der NME das erste Verkaufsmagazin für Musik, das den Schritt zur Umsonst-Zeitschrift macht.
Dies zeigt nicht nur exemplarisch auf, wie die Bereitschaft des Zielpublikums gesunken ist, für eine gedruckte Fachzeitschrift im Zeitalter des digitalen Gratis-Contents Geld auszugeben. Ebenso erzählt der Fall von der Transformation des Popjournalisten: Einst trug er die Charts noch von Hand zusammen; er ermöglichte den Lesern in seinen Reportagen im Gonzo-Stil Einblicke ins Leben der Superstars oder trug mit seinen Rezensionen massgeblich zum Erfolg einer Band oder sogar eines ganzen Musikstils bei, wie etwa in den Neunzigern in England dem Britpop.
Und heute? Im Falle des NME ist er überflüssig geworden, denn sein Feld der Expertise, die Popmusik, hat man gänzlich aus dem Heft gestrichen. Eine grosse Rolle spielte hier das Internet, das dem Benutzer heute fast alles bietet, was früher der Journalist zusammentrug: Schnappschüsse der Stars gibt es auf Instagram, den neusten Hit auf Youtube oder Bandcamp, Musikempfehlungen auf Social Media und zahlreichen Blogs.
Überall Tocotronic
Mittendrin fungiert der heutige Popjournalist als „embedded music journalist“, wie ihn der deutsche Autor und Musikagent Berthold Seliger in seinem Buch „Das Geschäft mit der Musik“ nennt: Er leistet keine Vermittlungs- und Aufklärungsarbeit mehr im Rahmen seines Faches, sondern fällt redaktionelle Entscheide in Abhängigkeit von der Werbewirtschaft. Als Beispiel nennt Seliger sogenannte „Koops“, also Kooperationen zwischen einer Plattenfirma und einer Musikzeitschrift. Das Label garantiert dem Heft ein attraktives Exklusiv-Interview mit einem Popstar, bestimmt aber dafür über weitere redaktionelle Inhalte der Ausgabe. Welche Gleichförmigkeit aus dieser Verschränkung von Journalismus und Industrie resultieren kann, zeigte sich im Januar 2013. Mehrere grosse Zeitungen und Musikmagazine, darunter Spex und Rolling Stone, setzten die deutsche Band Tocotronic, die eben ein neues Album veröffentlicht hatte, auf ihre Titel.
Dieser inhaltlichen Gleichschaltung wird der neue, kostenlose NME entkommen müssen, um sich gegen bereits etablierte Gratiszeitschriften und Online-Musikmagazine zu behaupten. Chefredaktor Mike Williams ist zuversichtlich: „Mit dieser Transformation werden wir grösser, stärker und einflussreicher sein als je zuvor“, sagte er zur „Süddeutschen“.
Vermutlich aber auch beliebiger als je zuvor. Der Medienkonsum hat sich individualisiert, der Benutzer sucht sich Inhalte, die ihn interessieren, selbst zusammen. Fachmagazine wie der NME stehen nun vor der Wahl, entweder gesundzuschrumpfen, um mit stark reduzierter Auflage aber klarem Profil weiterhin ein Nischenpublikum zu erreichen. Oder aber sie weiten Angebot und Reichweite aus, und bemühen sich um die dafür notwendigen Werbeeinnahmen. Dies auf die Gefahr hin, dass ihre Inhalte austauschbar werden und ihr angestammtes Publikum anderswo weiterliest.