Von Claudio Bucher –
Wenn über die Zukunft des Dokumentarfilms gesprochen werden soll, wird Adnaan Wasey eingeflogen nach Stanford, Leipzig oder Los Angeles. Sitzt auf Sofas in Talkrunden, holt einen kleinen blauen Plastik-Roboter aus seiner Blazertasche und sagt: „3D-printing, this will change the future of storytelling.“ Sätze, die eine Spur Ironie in sich tragen, markiert er mit einem Lächeln, mit diesem Fernsehmoderatorenlächelnweiss, das man nur in den Staaten lernen kann.
Für das öffentliche amerikanische Fernsehen PBS organisiert Wasey 48-stündige Events, Hackathons, an denen Filmemacher mit Software-Entwicklern den Dokumentarfilm für das Web neu erfinden. An diesem Osterwochenende in einer ehemaligen Kaffeefabrik in Dumbo, im Made in NY Media Center am Brooklyn -Ende der Manhattan Bridge.
Hi, I’m Angela, I am a film maker.
Hi, I’m Femi, I am a developer.
Hi, I’m Simon, I am a creative developer.
Hi, I’m Emily, I am a developer.
Die freundliche Vorstellungsrunde kommt zu einem Ende. Einige sitzen schon wieder an ihren Plätzen und checken E-Mails. Alle 21 Teilnehmer blicken auf den Organisator. Innerlich sind sie in Erwartung einer intensiven Erfahrung, an deren Ende die Präsentation von Websites und Apps vor Experten und Fachöffentlichkeit steht, morgen Abend um 18.00, die Jury besetzt mit einer Redaktorin der New York Times, der Präsidentin der Magnum Foundation und einem der PBS-Programmdirektoren. „Hier wird der Dokumentarfilm neu erfunden“, sagt mir Wasey, der Organisator.
Die Strassen des Digital Districts New Yorks sind an diesem Samstagmorgen fast menschenleer. Ausser dem Rauschen der Manhattan Bridge hört man nichts. Die Digitalisierung arbeitet leise. Aus den riesigen Industriehallen, in denen vor 100 Jahren Maschinen Kaffee in Säcke füllten, in denen in den 1960er-Jahren Künstler die oberen Etagen zu Lofts umbauten, dringt kein Lebenszeichen nach aussen. Nach dem Aufstieg der neuen Medien und dem Zuzug von über 500 Unternehmen zwischen Media und Tech sind die Mieten teurer geworden. Teurer als in Manhattan. Dumbo ist der kostbare Mikrochip der Medienhauptstadt New York.
In der Eingangshalle des Made in NY Media Center bewegen 8 Projektoren und 27 LCDs die Wände. Wer zum ersten Mal hereinkommt, bleibt stehen. Das Neue dieser Medienwelt bleibt unsichtbar: Algorithmen, mathematische Regeln, die den User-formerly-known-as-Das-Publikum durch Inhalte führen. Durch Video, Text und Ton, Dokumentarisches und Extrahiertes von Clouds, Archiven und Big Data.
Im Media Center stehen lange Tische mit Apple-Displays, 450$ pro Arbeitsplatz pro Monat für die Creative Economy. Der ehemalige Bürgermeister Michael Bloomberg hat die Ideenfabrik vor zwei Jahren bauen lassen, als einen von zehn Inkubatoren. New York konkurriere um intellektuelles Kapital, sagte er zur Eröffnung, „wenn du Mais anbauen willst, bist du hier am falschen Ort“.
Es ist 11:00 Uhr, die Hackackathon-Teilnehmer sind am Arbeiten. Vorher hat Wasey ihnen die vier wichtigsten Schritte des kurzen Programmier-Marathons erklärt:
- Visionieren
- Priorisieren
- Prototyp
- Veröffentlichen
(morgen 18:00 Uhr online)
Wasey entschuldigt sich dafür, dass er vorher keine Zeit für mich hatte. Er sitzt aufrecht in einem tiefen orangen Sofa neben mir, Adidas Sneakers, seine schwarze Brille mit schmalen Gläsern ist ein wenig runtergerutscht, sie sieht aus wie eine Lesebrille. “Es geht vor allem um schnelle Entscheidungen.”, erklärt er mir.Es geht um ein Minimum Viable Product. Das ist Silicon-Valley-Lean-Startup-Slang für: Man entwickle ein Produkt nur so weit, dass es im Markt getestet werden kann. Waseys Produkte sind interaktive Dokumentarfilme. Ob damit eher die transmediale Erweiterung klassischer Dokumentarstoffe und –stücke gemeint ist oder die komplette Neuerfindung des klassischen Dokumentarfilms, muss sich noch zeigen. Klar ist: Wasey geht es um die Menge an Usern, die interaktive Dokumentarfilme online anklicken, sich in den Geschichten verlieren, scrollen, skippen oder weiterziehen. Jede Bewegung, jedes Zögern, jede Mausbewegung wird beobachtet, aufgezeichnet und ausgewertet. Wie formuliert man die Spielregeln der Interaktion so, dass der User einsteigt, eintaucht und drinbleibt?
Vor uns beugen sich 21 Digital Talents und Filmemacher in vier Gruppen über Laptops und stellen diese Regeln auf, indem sie Zeilen der Codiersprache manipulieren. Zwischen der Startphase, in der sie sich befinden, und der Schlusspräsentation liegen 30 1/2 Stunden mit vielen fliegenden Zwischenverpflegungen, Kaffee aus Recycling-Tetrapaks, Energieriegel, Tacos, Salat, alles bereit auf einem langen weissen Tisch.
Wasey sagt, er habe oft gesehen, dass erzwungene Entscheidungen besser sein können als lange Planung. Es ist bereits sein achter Hackathon für PBS POV, der 48-Stunden-Event habe, wie er sagt, eine 100% Prototype Production Rate. Seit zwei Jahren leitet er die Digital-Abteilung von POV, dem Dokumentarfilm- Sendegefäss von PBS. Die Grossen der Branche, so etwa Oscarpreisträger wie Michael Moore oder Laura Poitras, haben bei POV begonnen.
Für PBS POV betreut er digitale Projekte und kümmert sich um deren Finanzierung. „Immer noch sehr wenig“, sagt er, ohne Zahlen zu nennen, auf meine Frage, wieviel da zusammenkommt. Er spricht ruhig. Hört zu mit grossen Augen, schenkt seinem Gegenüber vollste Aufmerksamkeit. Ruft ihn jemand, dreht er sich langsam um. Es scheint so, als ob er eine grössere Studie am Laufen hat und jedes seiner Gegenüber neue Erkenntnisse liefern könnte, Messungen, die er in Echtzeit mit Bestehendem vergleicht, verknüpft und archiviert. Wasey ist gelernter Chemiker, vom Typ her eher Gale als Walter White in der TV-Serie „Breaking Bad“. Nach seinem Chemie-Studium Ende der 90er, es ging um Forschung („Investigations of the spiropyran-merocyanine photochemical switch“) arbeitete er als Programmierer, dann als Wissenschafts-Onlineredaktor, hier ging es mehr um Kundenbedürfnisse (“Stressed out? Forget exercise. Candy could be your chill pill“). Er war Direktor eines kleinen Filmfestivals in Kanada, interactive Editor, Executive Director POV Digital. Er muss um die 40 sein. Online findet man keine Angaben zu seinem Alter, vielleicht, weil diese Zahl bei Digital Talents statt alte Schule und Erfahrung eher nur noch alte Schule bedeuten kann. Die Digital Talents im Raum sind alle sehr jung, die meisten unter 25.
Als Mentoren hat er auch ein paar ältere Semester eingeladen. Shayla Harris, Senior Video Producer der New York Times steht mit Simon, dem Creative Developer der Gruppe “All this time”, neben einem Whiteboard.
I WANT TO CRY
I WANT TO LAUGH
I WANT TO THINK
I WANT TO DO ALL THESE THINGS TOGETHER
Simon übersetzt die Vision der Filmemacherin Angela in nächste Arbeitsschritte für die zwei Softwareentwickler Femi und Emily.
Angela, Filmemacherin um die Dreissig, hat schon für PBS und das Time Magazine Filme produziert, etwa über die Todesstrafe und Asexualität. Für den Hackathon hat sie nur einen kurzen Text und eine Vorstellung mitgebracht: Es geht um den Verlust einer lieben Person, die Einsamkeit der Hinterbliebenen, und was man dagegen tun kann.
Hat sie ihre Filme bisher monatelang im Montageraum auf einer Linie angeordnet, ein Ende gesucht und den Spannungsbogen dahin, navigiert das Web-Projekt, das im Hackathon Formen annehmen soll, in Echtzeit durch Bilder und Klänge unseres jungen digitalen Gedächtnisses. Mit einem Datum, das zu Beginn eingegeben wird, soll die Website als Interface Bilder und Videos im Internet suchen und zeigen, dem User ein Netz aus Trost weben, mit kulturellen Referenzen, Erinnerungen, Emotionen: den Präsidenten der Zeit, den Nummer 1 Hit der Woche, Portraits von Menschen, die auch an dem Tag gestorben sind. Jeder User soll seinen eigenen Film sehen.
Simon stellt den Software-Entwicklern die meistgehörte Frage des Tages: Ist das machbar?
Emily, 21, rote Wollmütze, Chucks mit grünen Schuhbändeln, kariertes Hemd, nickt einen Millimeter und schaut in ihren Laptop. Die linke Hand stützt das Kinn, der rechte Mittelfinger streicht über das Trackpad. „Teachers are awesome“, verrät ein Sticker auf ihrem Laptop. Emily studiert Computer Science an der Columbia University in New York, später erzählt sie mir von einem neuen Studiengang, der Journalismus und Computational Science zu gleichberechtigten Partnern gemacht hat.
Jackpot!
Sie redet schnell und gestikuliert zuckend, spricht spanisch, französisch, holländisch, Java und C, hat einen Notenschnitt GPA 3.7 von 4, gewann mit 14 einen Chemie-Contest des Bundestaates Washington, mit 16 Best Guitar an einem nationalen Contest in Kalifornien. In einem ihrer Songs singt sie damals „I’m not wasting my time. I’ve kept on going, kept on working. You, you’ve been asleep all day, and I’ve been up all night.“ Mit 19 schafft sie es ins Finale des nationalen Google Code Jams für Frauen, gewinnt am New York Times Hack Day mit ihrem Team einen Award für Pocket NSA, eine Applikation, die Journalisten nach einem Anruf einen Link zur vorangegangenen Konversation schickt. Jackpot!
Emily ist in einem High School-System aufgewachsen, das unter Computer Science noch Schreibmaschinenschreiben und den korrekten Umgang mit Social-Media verstanden hat. Mittlerweile haben erste Staaten Programmieren zum Pflichtfach auf High-School-Level gemacht. Um die Jugend zu begeistern für das Coden, für die Jobs von morgen. Jobs, die in fast allen Wirtschaftssektoren mehr Informatik-Skills erfordern werden, als Excel-Tabellen zu erstellen und E-Mails zu beantworten. Hackathons sind ein Teil davon. In erster Linie von der Software-Industrie organisiert, um in kurzer Zeit neue Ideen zu entwickeln, wird das kollaborative Programmieren auf Zeit mittlerweile breit genutzt, von Universitäten, Spitälern, Museen, Modemagazinen. Im Oxford Dictionary existiert der Hackathon seit 2012. Emily hat schon an vielen teilgenommen, dies ist ihr erster mit Dokumentarfilmen. „Ich habe gedacht, es habe mehr Journalisten hier mit Social Issues. Weniger Kreative.“
Am Abend wird ein Harass Brooklyn Lager-Bier hingestellt, zwei Flaschen werden getrunken. Die leeren Pizzaschachteln werden in Abfalleimer entsorgt, die sich via Sensor öffnen lassen. Eine ältere Dame, die alle zu kennen scheinen und die mit dem iPad Fotos twittert, sagt, dass wir nun auf den Late Night Turnaround warten. Die magische Stunde. Gescheitert ist bisher noch niemand, versichert mir Wasey. 100% Prototype Production Rate.
Er hat die Teilnehmer am Nachmittag schon mal die Präsentationen für morgen proben lassen. Präsentieren sei wichtig, nicht nur in der Werbung, auch im Dokumentarfilm. Filme machen heisst, andere überzeugen, auch wenn man selber zweifelt. In „Hearts of Darkness“ (1991), einem seiner Lieblingsdokumentarfilme sehen wir das Leiden des Regisseurs Francis Coppola während den Dreharbeiten zu „Apocalypse Now“ (1979). Ein Regisseur, der zweifelt, schreit, nächtelang im Unterhemd an der Schreibmaschine die Szenen des nächsten Tages tippt. In der intensivsten Szene sagt er zu seiner Frau: „Ich sage es Dir von ganzem Herzen: Ich drehe gerade einen schlechten Film.“ Trotzdem weiss Coppola sich gegenüber Gesandten des verunsicherten Studios zu verkaufen. Einer kehrt zurück mit der Überzeugung, dass der Film den ersten Nobelpreis der Filmgeschichte gewinnen wird.
Den vier Teams rät Wasey, besser good als great sein zu wollen. Sich nicht in Details zu verlieren. Wichtig seien vor allem die ersten zehn Sekunden. Kürzlich hat er das Momentum der Interactives mit den ersten Lumière-Brothers-Filmen verglichen, mit den ersten Bewegtbildern der Menschheit vor 120 Jahren. „Die Leute haben noch nie etwas Vergleichbares gesehen.“ Die Technologie ziehe einen rein. Die Novelty, das Neuartige sei das grosse Ding, es übertrumpfe gar die Story.
Bei aller Technikverliebtheit könnte untergehen, dass es Wasey um mehr geht, als bloss das Wegklicken zu verhindern. Interactives sollen Wissen vermitteln und ein Bewusstsein hinterlassen. Man sei noch in der Education-Phase, sagte kürzlich sein Kollege David Dufresne, Forscher, Filmemacher, Pionier auf dem Gebiet. Der interaktive Dokumentarfilm habe filmgeschichtlich erst gerade die Schwelle von Schwarz-Weiss zu Farbe überschritten. Man lerne erst noch, der Macher wie der aktive Zuschauer. Letzterer müsse erst lernen, mit der neugewonnen Freiheit umzugehen. Mit seinen neuen Rollen als Entdecker, als Erforscher, als Journalist in eigener Sache. Durch die neuen Arten, Geschichten zu erzählen, entstünden nicht nur neue Bilder und virtuelle Welten, sondern neue Augen und neues Verstehen.
Als Wasey seinen Job bei PBS POV begann, schaute er sich durch die VHS-Kassetten im Archiv. Ein grosses Archiv: Kein unabhängiges Dokumentarfilmformat in den Staaten ist schon so lange auf Sendung wie PBS POV. Den Talenten des Digitalen rät Wasey als Erstes immer, einen Vorgänger zu finden, eine Precedence. Jemand hat das schon vor zwei Jahren gemacht. Jemand hat das schon vor 60 Jahren gemacht.
Wenn Wasey Filmemachern alter Prägung fürs Web von heute eher zu einer 3-Minuten-Videoserie auf Facebook als zu einem Langformat rät, dann auch darum, weil er der Philosophie von John Grierson, dem Pionier und Namensgeber des Dokumentarfilms in den 30er Jahren, nahe steht. Dem Urvater der britischen Dokumentarfilmschule, der über 1000 Dokumentarfilme machte, ging es darum, die Gesellschaft zu verändern. Den Bürgern Werte zu vermitteln, die die Gesellschaft zusammenhalten. Vermitteln, dass wir in einer Gesellschaft leben, die nach erstrebenswerten Werten funktioniert. Dokumentarfilme sollten Unsichtbares sichtbar machen, ungehörte Stimmen hörbar. Es ging ihm um die Kraft der Documentaries, die Gesellschaft zu bewegen. Zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zu mehr aktivem Bürgertum. Grierson zählte sich nicht zu den Kreativen. Er sah Dokumentarfilmer nicht, wie etwa PBS POV-Gründer Marc Weiss, als Poeten. Für Grierson war, und das ist auch Waseys Haltung, Kunst ein „Nebenprodukt getaner Arbeit“.
Grierson wollte mit dem Dokumentarfilm eine Alternative zu den Boulevardzeitungen schaffen, nachdem er beobachtet hatte, dass die Bürger sich nicht mehr über die Schule oder die klassischen Medien informierten. Auch setzte er Meinungsmacher ein, hatte Journalisten der grossen Zeitungen auf seiner Seite, Zugang zu den Frontseiten der Massenmedien. Wenn Wasey heute mit der gleichen Grundidee kurze Videoformate und Social Media empfiehlt, dann auch, weil er die Zahlen kennt, weil der Outreach, die Breitenwirkung in der Zeit der elektronischen Weltvernetzung über Hintern in Kinosesseln und Augäpfeln vor Fernsehern hinausgeht. Wasey weiss, dass mobile Videos zu den stärksten digitalen Trends gehören und dass beinahe die Hälfte aller Webnutzer Neues über Facebook entdecken, kommentieren und weiterteilen. Grierson würde heute wohl auch zirkulierende Web-Formate nutzen. Wieso Aufführungen in Kirchenkellern und Schulen organisieren, wenn jeder sein interaktives Taschenkino auf sich trägt?
Sonntag, 18:00 Uhr. Die Präsentationen beginnen gleich. Wasey hat zum dunkelblauen Blazer mit weissem Hemdkragen gewechselt. Das Zeitmanagement scheint erfolgreich gewesen zu sein: Unter den Teilnehmern kam den ganzen Tag keine Hektik auf. Eine Catering-Firma liefert pünktlich Gemüsedips mit Hummus, Holzspiesse mit Crevetten und scholokadenüberzogene Marshmellows. Die Schar der Gäste ist überblickbar. In einer Kartonschachtel werden Audience Evaluations gesammelt. Man kann die Pre-Event-Kommunikation benoten von 1 bis 5, von armselig bis exzellent, auch das Catering und die Präsentationen sind Gegenstand der Evaluation.
Die Prototypen werden, wie geplant, alle auf POV Digital veröffentlicht. 100% Prototype Production Rate.
Angelas Prototyp funktioniert nicht. Zumindest nicht die interaktive Idee dahinter. Der Prototyp zeigt nur ihre Geschichte. Wie sie ihren Vater verloren hat am 24. Dezember, 2004. Das war die Temperatur. Das war unser Präsident. Das war der Nummer 1 Hit im Radio. Wenn Du an Weihnachten denkst, denkst Du an… Wenn ich an Weihnachten denke, denke ich an… Ob hinter den Bildern wirklich Skripte in Echtzeit diese Verbindungen zu Bilder und Videos herstellen, bleibt den Anwesenden verborgen. Nach der letzten Präsentation fällt der Applaus im Café des Made in NY Media Center freundlich verhalten aus. Der Lumière-Brothers-Moment bleibt aus. Hackathons sind vor allem dazu da, Dinge auszuprobieren, sagt Wasey.
Es sind kleine Schritte, die hier gemacht werden. Der Markt ist noch übersichtlich. Gerade mal 58 Einsendungen gingen dieses Jahr ein für die noch junge Kategorie Multimedia – Interactive Documentary beim World Press Photo Award, in der Wasey in der Jury sitzt. Fragt man Diffusionsforscher, so befinden wir uns in der wichtigsten Phase der Innovation: Die Annahme oder Ablehnung einer Erneuerung wird gerade diskutiert, vor allem bezüglich des sozialen Verwendungszwecks. Entdeckt die Gesellschaft, dass mit der neuen Technik nicht nur traditionelle Verfahren verbessert werden, sondern sich auch neue Möglichkeiten auftun, entwickelt sich die neue Technik zu einem revolutionär neuen Kulturinstrument. Wasey sucht mit seinen Projekten Lösungen, Methoden, Stilmittel, Muster, die er anderen zur Verfügung stellt, um die Innovation voranzutreiben. Auch die Skripte der in den letzten 48 Stunden entwickelten Projekte werden online gestellt. Die Community folgt der Open Source Philosophie. Mit jedem Projekt, jedem Hackathon wächst der Baukasten, wächst die Filmsprache der interaktiven Dokumentarfilme von morgen.
Wasey spricht dieses Wochenende nicht von Filmemachern, sondern von Media Creators. Angela ist ein Media Creator. Femi ist ein Media Creator. Simon ist ein Media Creator. Emily ist ein Media Creator. Die neue Generation der Filmemacher wächst in einem System auf, in dem die Grenzen zwischen Inhalt und Medium, Text und Skript, Autor- und Distributionsperspektive, Film- und Maschinensprache verschwimmen.
Wasey weiss: Wer im Web Geschichten erzählt, tut dies auch für ein Publikum auf Ungeduldsmaschinen. Auf Geräten mit kleinen Bildschirmen, die David Lynch für shameful, shameful things hält. Wenn eine Geschichte in zwei Stunden erzählt werden soll, bleibt das Kino der Tempel der Aufmerksamkeit. Ein Film des klassischen Erzählkinos braucht Zeit, sich aufzuladen, Zeit für die Crisis Structure, für das Mitfiebern mit dem Protagonisten zum grossen Endspiel, durch den Wintersturm, zur Versöhnung, zum Urteil.
Theaterkritiker warfen dem damals noch jungen Kino schon vor 100 Jahren Ungeduld vor: Es zerhacke klassische Dramas, verkürze sie auf die erregenden Momente, den Überfall, den Mord. Vandalismus! Wasey ist überzeugt, dass der traditionelle Dokumentarfilm im Kino und im Fernsehen oder der Streaming Box Bestand haben wird. Wenn Wasey drei Minuten fürs Web empfiehlt statt 60 Minuten, dann weil er die neuen Geräte kennt und die Benutzer und deren neue Augen, ihre Erwartungen, ihre Aufmerksamkeit, die durch diese neuen Geräte erst geformt wurden.
Einen Einblick in den Alltag der traditionellen Dokumentarfilmemacher erhielten die Digital Talents in den 48 Stunden nicht. Sie sahen nicht, dass sich der Alltag der Dokumentarfilmemacher vor allem um drei Dinge dreht: 1. Zeit (Jahre!), 2. Geduld und 3. Geld. Punkt 3 wird sich auch in der Welt der Interactives nicht ändern: Der Dokumentarfilm suchte schon immer die Unabhängigkeit von der Kinokasse. Non-Profit-Organisationen wie PBS POV, das National Film Board of Canada, staatliche Institutionen, Stiftungen mit Spezialinteressen, Privat-Investoren, ob per Crowdfunding oder per Banküberweisung: Der Dokumentarfilmemacher wird auch in Zukunft ein Entrepreneur bleiben, seine Zwischenstände den Geldgebern präsentieren müssen, um die Filme fertigstellen zu können. Neue Fonds werden gegründet, um die neuen Formen voranzutreiben, die Teams zu finanzieren, die um Software-Entwickler und Datenbankanalysten gewachsen sind. Die die technische Arbeit fortführen, wenn der Film schon lange geschnitten ist.
Wasey unterstützt einen Teil der Hackathon-Projekte nach dem Wochenende finanziell. Bietet ihnen ein Hosting der Website auf Perpetuity. Einen festen Platz im schnell alternden Internet.
Die Lieferanten von Stoff für die digitalen Netzwerke in Zukunft werden denjenigen der Abspielstellen von gestern ähnlich sein. Es sind Leute, die sich mit der Kamera in Welten und Situationen begeben, die wir so im Alltag nicht erleben. Die ausgesuchte Dargestellte dazu bringen können, vor der Kamera präsent zu sein, wahr zu sein. Mit Empathie, Glaubenswürdigkeit, Geduld. Sie sind die Vorverarbeiter unserer historischen Realität. Sie verwandeln die Realität in narrative Strukturen, reduzieren das Chaos auf Erzählungen in Bahnen, Linien, Regeln oder Mustern, die uns durch die Welt führen, Ordnung und Sinn schaffen. Mit den klaren Worten einer Voice-of-God oder Stimme des Gewissens bezeichnen und erklären sie Missstände, mit einer kristallinen Struktur setzen sie innere und äussere Wahrheiten in ein Verhältnis. Der Media Creator benutzt die Worte des Autors, die Formen und Farben des Malers, die Töne und Klänge des Musikers, die Linsen der Kamera. I-Docs bedeuten keine Neuerfindung des Genres, sondern eine Erweiterung. Kein blosses transmediales Nebenprodukt, sondern eine eigenständige Form der Erzählung. Neue Techniken, Sprachen und Ästhetiken werden durch Trial & Error-Verfahren an Gerät wie Publikum erst erarbeitet. Der Prozess wird beschleunigt durch wachsende Datendurchsatzraten auf Tablets und anderen Trägern, die Verbreitung dieser Geräte und die Entwicklung und Etablierung neuer Input-Methoden, die über Wearables und Eye-, Motion- und Emotiontracking hinausgehen werden. Bis dahin sind es kleine Schritte, die gemacht werden.
Im Made in NY Media Center by IFP gibt es am Ostersonntagabend um 19:15 Uhr ein Gruppenphoto.
Man gratuliert sich.
Emily ist nicht mehr hier.
Metareporter Longform ist eine Text-Reihe mit Reportagen, welche Hotspots des Wandels in Kultur, Medien und Gesellschaft untersuchen. Der vorliegende Text entstand 2015 innerhalb des von Frédéric Martel und Ruedi Widmer betreuten „Research Project“ des Master Kulturpublizistik.
Claudio Bucher ist Autor, Musiker, Komponist und Produzent. Er schliesst den Master Kulturpublizistik 2016 ab.