Ewa Hess studierte Philologie in Zürich und Paris. Danach war sie am Kunstmuseum Bern tätig. Durch die Mitarbeit bei einer Museumspublikation kam sie ins Feld der Kunstpublizistik. Als Journalistin schrieb sie seit 1995 für diverse Medien wie die Berner Zeitung und das Kulturmagazin Du, als Kulturverantwortliche und Kunstkritikerin für die SonntagsZeitung und den Tages-Anzeiger. Sie veröffentlichte Publikationen zur zeitgenössischen Kunst und initiierte den Kunstblog «Private View» auf tagesanzeiger.ch. Momentan ist sie «feste Freie» bei Tamedia und widmet sich der Diskussionsplattform Kunstforum Zürich, die sie 2017 mit einer Gruppe von Gleichgesinnten gründete. Das nachfolgende Interview wurde von Eva Vögtli am 6. Dezember 2018 im Rahmen des Unterrichts im Master Kulturpublizistik geführt.
Eva Vögtli: Wie kam der Blog Private View zustande?
Ewa Hess: Ausschlaggebend war, dass ich als Verantwortliche des Kulturressorts der Sonntagszeitung über mehr Informationen aus verschiedenen Bereichen des Kulturlebens verfügte als ich in den Artikeln unterbringen konnte. Ich begann mit «Private View» 2014, zu einer Zeit, als die Entwicklung neuer Formate von den Redaktionen begrüsst wurde, man wollte online gehen. Auf der Website des Tagesanzeigers wurden täglich einzelne Blogs vorgestellt und beworben. Ich postete die Beiträge einmal in der Woche, was für einen Blog eigentlich nicht so oft ist. Inklusive Vernissagenbesuch, Recherche, Fotobearbeitung und technischer Implementierung war ich aber damit schon gut zwei Tage beschäftigt. Die Anmutung eines Blogs soll ja zwangslos sein, der Text sollte in einem Plauderton daherkommen. Das hinzukriegen und dennoch die Sache, über die man schreibt, nicht vereinfachen zu müssen, ist eine durchaus ernstzunehmende Aufgabe. Manchmal ist sie anspruchsvoller, als wenn man für ein Fachmedium schreiben würde, weil man eine Idee haben muss, wie man die Menschen zur Lektüre verführt. Kurz und gut: Es war ein grosser Spass, aber zeitintensiv, und die Bezahlung nicht grossartig.
EV: Der Blog bietet den Lesern die Möglichkeit, zu kommentieren, zu teilen und zu liken. War es Ziel deines Blogs, Kunstinteressierte zu einer Diskussion anzuregen?
EWH: Ja! Es waren aber immer die gleichen drei oder fünf Leser, die kommentiert haben. Ich habe meist ernsthaft geantwortet, bin selbst in die Diskussion eingestiegen, doch so richtig spannende threads haben sich daraus selten entwickelt. Mein Blog hatte ab und zu ordentlich Klicks und ich hatte das Gefühl, in der Kunstszene gut gelesen zu sein. An Vernissagen wurde ich auf meine Beiträge angesprochen. Eine Diskussion online ist aber offensichtlich in der Gruppe der Kunstinteressierten nicht en vogue.
EV: Seit 2017 arbeitest du beim Kunstforum Zürich, das du mitbegründet hast. Ist die Diskussion über den Kunststandort Zürich und den Kunstmarkt für dich spannender geworden als die Besprechung einzelner Kunstwerke und Künstler? Wirst du dich vermehrt darauf konzentrieren?
EWH: Es ist spannend und wichtig, über das Kunstgeschehen und den Kunstmarkt zu diskutieren und zu schreiben. Es muss ja nicht nur das eine oder das andere sein. Es gibt zwar immer noch diese klassische Auslegung des Feuilletons, in der Diskussionen um Auktionen oder Marktthemen als etwas Unfeines gemieden werden. Ich halte diese Themen für ebenso wichtig, ob als Diskussionsthema oder in der Zeitung. Ob schreiben oder diskutieren wichtiger ist? Nun ja, ein intelligenter Mensch braucht Abwechslung, und aus dem Kulturjournalismus kommt man nicht oder nur schwer raus. Das ist vielleicht schade, weil Kultur sehr interessant, aber auch eine Nische ist. Und die Kompetenz der Kulturjournalisten beschränkt sich nicht auf die rein kulturellen Themen.
EV: Wie hast du dir dein Netzwerk aufgebaut, das dich in der Kunstszene unter anderem interessant macht und die Arbeit im Kunstforum ermöglicht?
EWH: Man hat es in den Beinen: Hingehen, sich interessieren, Ausstellungen und Vernissagen besuchen. Aus dem Computer erfährt man viel, aber nicht alles über die Welt. Gerade für uns Journalisten ist es existenziell wichtig, rauszukommen, Menschen zu treffen, und nicht nur die Pressekonferenzen, sondern auch das «natürliche Kulturleben» mitzumachen. Zugegeben, es ist manchmal schon nervig, wenn man danach in der Nacht schreiben muss – aber war das früher nicht immer so? Ein Theaterkritik-Portal heisst sogar «Nachtkritik». Man kann das als einen besonderen Kick des Kulturjournalismus erleben, auch wenn das Privatleben manchmal zu kurz kommt. Wenn man eine Leidenschaft für die Kulturszene hat, macht man das eine Zeit lang sicher sehr gerne. Es kann aber auch passieren, dass man etwas ausbrennt und es eher als Pflicht ansieht. Zum Glück gibt jedes tolle Erlebnis neue Motivation.
EV: Sind es für dich besondere Erlebnisse, wenn du Persönlichkeiten wie Jeff Koons, Gérard Depardieu oder Claude Picasso interviewen kannst?
EWH: Ich will das nicht verneinen. Ich sehe mich zwar sicher nicht in der Rolle einer verblendeten Staranhimmlerin. Interviews aus einer Fanperspektive sind das Langweiligste. Man muss sich getrauen, die relevanten Fragen zu stellen. Das Gegenüber mit Lob zuzuschütten, ergibt kein gutes Gespräch. Trotzdem ist es ein kleiner Kick, diese Menschen, die man sonst aus der Ferne sieht und interessant findet, persönlich zu erleben. Beim Abendessen sagt man dann vielleicht, Jeff Koons war so oder so, und kann mit der Erzählung auch eine Tischrunde unterhalten. Koons hat mich übrigens, als ich ihn in seinem Atelier in New York besucht und interviewt habe, mit seiner kalten, fast schon traurigen Ausstrahlung überrascht.
EV: Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Schreiben für ein Kulturmagazin wie das Du und dem Schreiben für die Sonntagszeitung oder den Tagesanzeiger?
EWH: Es gibt Unterschiede im Stil und Unterschiede im Umfang. Beim Du etwa hatte ich zwei Seiten für eine Kolumne zur Verfügung, das war so viel Text wie in der Sonntagszeitung für einen Bundaufmacher. Das war grossartig, damit habe ich auch die Freuden eines sehr persönlichen Stils erlebt. Die Artikel in der SonntagsZeitung gehorchen eher einem nüchternen Magazinstil: klare Sprache, logischer Aufbau und eine Fülle an relevanten und überprüfbaren Fakten sind dabei wichtig. In einer Tageszeitung wiederum spielt die Aktualität, der lokale Bezug eine Rolle. Wobei gerade bei der Wochen- und Tageszeitung verwischen sich seit einigen Jahren die Grenzen, das «schnelle» Medium ist ja jetzt das Internet. Die Redaktionen der Sonntagszeitung und des Tagesanzeigers sind jetzt sogar zusammengelegt, früher waren das zwei getrennte Kulturredaktionen. Früher ist die Konkurrenz zwischen den einzelnen Redaktion stärker im Vordergrund gestanden, jetzt geht es mehr um die Zusammenarbeit – auch gut. Artikel in der Sonntagszeitung müssen aber immer noch anders daherkommen als solche im Tagi, gewisse übergeordnete Elemente vorweisen und einen universelleren Anspruch erfüllen. Eine Kulturzeitschrift kann sich den beiden gegenüber natürlich viel tiefer und detaillierter mit spezifischen Teilaspekten auseinandersetzen.
Medien, Kunstkritik und Kunstmarkt im Wandel der Digitalisierung
EV: Wie hast du die Umstrukturierungen bei Tamedia erlebt?
EWH: Es war und ist eine schwierige Zeit, für alle Beteiligten. Mitten im Orkan gibt es aber auch ruhige Inseln. Und wie bei allen tektonischen Bewegungen kann man auch Glück haben – ich empfand mich nie als benachteiligt. Ich sehe auch positive Seiten am Ganzen: Durch die Zusammenlegungen arbeiten jetzt Kolleginnen und Kollegen aus Bern, Basel und der Romandie oft gemeinsam mit den Zürchern, man zieht am gleichen Strang. Traurig ist, dass die Diversität der Presselandschaft darunter leidet. Generell muss man sagen, dass eine so weitgreifende Zusammenlegung kein einfaches Manöver ist, und dass es doch immer möglich war, auf der Redaktionsebene konstruktiv und kollegial zusammenzufinden.
EV: Wie schreibt man über Kunst? Gibt es da einen Konsens?
EWH: Es gibt in der Kunstpublizistik zwei Lager – einerseits die «Rauner», die kluge, doch unverständliche Kunsttexte schreiben, und die «Vermittler», die sich bemühen, aus dem Kuratorentalk auszubrechen. Ich bin immer dafür, dass man zwischen die Fronten geht. Man kann die Absichten der Künstler und der Kuratoren auf Augenhöhe verstehen, die Erlebnisse in Galerie und Museum auf sich wirken lassen, und daraus dann einen Text für eine Mainstreamzeitung ableiten, den nicht nur ein Kunsthistoriker versteht.
EV: Werden Kulturpublizistinnen in Zukunft tendenziell weniger für Zeitungen schreiben, sondern ihr Netzwerk nutzen um Diskussionen und Veranstaltungen zu leiten?
EWH: Ich denke, dass das eine Folge davon sein wird, dass es dem Journalismus nicht so gut geht. Dasselbe geschah in der Musikbranche: Als die CDs sich nicht mehr verkauften, gingen alle Rockstars auf endlose Konzerttouren, weil nur Konzerte Geld bringen. Die Verlagshäuser erwarten vermehrt, dass Redaktoren nicht nur schreiben und online Texte schalten, sondern auch noch am Abend Diskussionen moderieren. Wenn man kein Hansdampf in allen Gassen ist und über endlose Energien verfügt, kann sich ein solcher Betrieb sehr kräftezehrend anfühlen.
EV: Sollten die Zeitungen mehr Geld ins Feuilleton stecken?
EWH: Ich weiss nicht, ob ins Feuilleton… In die Redaktion vielleicht. Ob das aber die Zeitungskrise abwenden würde, weiss ich nicht. Schon vor zwanzig Jahren unkten die Marktspezialisten, als ich bei der Berner Zeitung anfing, es werde in der Schweiz bald eine Flurbereinigung geben und wir würden ein Mediensterben in der Schweizer Presse erleben. Es ist dann erstaunlich lange wenig passiert, doch als es dann losging, ging es sehr schnell. Da ist die Schweiz nicht allein, Holland hat beispielsweise nur eine Zeitung für das ganze Land. Wir haben immer noch mindestens sechs grosse Redaktionen schweizweit. Das Geschäftsmodell der Zeitungen funktionierte seit mindestens hundert Jahren so, dass die Einnahmen aus der Werbung die wichtigere Ertragsquelle waren als die von den Lesern. Die Werbung war sehr teuer und man musste einen Streuverlust in Kauf nehmen. Heute kann man präziser auf die Zielgruppen zugehen über verschiedene neue Kanäle, nicht zuletzt Social Media. Die Werbung im Netz kostet Firmen zudem einen Bruchteil der Werbung in den Zeitungen. Das Businessmodell hat also ausgedient. Nicht nur das der Zeitungen – der Werbung selbst geht es ebenfalls schlecht. Die Musikbranche ging uns voran, die Filmbranche wird nachfolgen.
EV: Kritiker der Zusammenlegungen würden erwidern, dass es gar nicht so schlimm um die Zeitungen stehe. Sie schreiben keine roten Zahlen. Daniel Ryser vertritt die Meinung, dass wenn weniger Geld in Zeitungen und ihre Kulturressorts gesteckt wird, diese schlechter werden und sich schlechter verkaufen.
EWH: Dem wage ich zu widersprechen, denn der Kulturteil hat die Zeitung nie in diesem Sinne «verkauft», sondern war eine Leistung im Sinne des «service publique». Aber sicher, würde die Tamedia nur eine Million von den 170, die sie etwa 2017 als Gewinn schrieb, pro Jahr in die Redaktion reinstecken, würde das nicht nur das Leben von Journalisten erträglicher machen, sondern auch die Zeitung stärker. Es wäre nicht nötig, so von der Hand in den Mund zu leben. Eigentlich hätte man mit dieser Strategie schon am Anfang der Krise beginnen können, um auf Vorrat Qualität zu tanken, aber ich bin ja keine Ökonomin.
EV: Ist es für Kunstkritikerinnen schwieriger geworden, kritisch über Kunst zu schreiben, weil es keine klaren Kriterien mehr für die Kunst gibt und kein verbindlicher Wertekanon mehr besteht?
EWH: Der Zerfall des Wertekanons wird in der heutigen Zeit oft beklagt. Ich glaube aber, es gab ihn nie. Gerade in der bildenden Kunst gab es nie Kriterien wie: Das muss quadratisch oder gerade sein. Es ging immer um ein Suchen und Verstehen. Die bildende Kunst entwickelte sich von Neuerung zu Neuerung, jede Neuerung war erst mal ein Schock und wurde für hässlich befunden. Das beste Indiz dafür, dass es diese angeblich für alle Zeiten festgelegten Werte nie gab, sind die ständigen Wellen der Kanonkorrekturen. Etwa die französische Malerei des 19. Jahrhunderts wird plötzlich rehabilitiert – wie kürzlich im Kunsthaus Zürich – oder neunzigjährige Künstlerinnen werden wiederentdeckt, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Werkschaffung marginalisiert und totgeschwiegen wurden. Den Kanon gibt es immer nur in einem gewissen Zeitpunkt, er ist nicht in Stein gemeisselt.
EV: Wie stehst du zu dem Vorwurf, dass in der Kunst nur noch über grosse Ereignisse berichtet wird, zum Beispiel wenn ein Werk zu einem übertrieben hohen Preis versteigert wird oder ein Künstler einen Skandal bietet? Wäre es eine Alternative, über unbekanntere Künstler und Ausstellungen zu berichten?
EWH: Es wäre sinnlos, nichts über ein grosses Ereignis zu berichten, nur weil alle anderen es auch tun. Solche Ereignisse gehören nun mal zu der Agenda eines Journalisten. Eine Zeitung soll keine ideologische Anstalt sein, sondern über all das berichten, was auffällt, wichtig ist, die Leser interessieren könnte. Die Förderung von Newcomern ist nicht die eigentliche Aufgabe der Kunstkritik, auch wenn die «neuen Namen» ab und zu bestimmt auch interessieren. Zu einem funktionierenden Echoraum für Kultur gehört übrigens nicht nur die Presse, sondern auch das Interesse der Kulturszene an der Presse. Ich frage mich oft, ob das genügend vorhanden ist. Viele in der Kunstszene lesen nicht mehr als eine Zeitung und darin auch nur die Artikel über sich selbst. Das finde ich nicht fördernd! Man hört so oft die Standardklage, dass die Presse immer schlechter wird, und stellt dann fest, dass die betreffende Person die Artikel aus der jüngsten Zeit, über die man dann diskutieren möchte, gar nicht gelesen hat und die jüngsten Entwicklungen in der Presselandschaft gar nicht verfolgt.
EV: Ein weiteres Problem der Kunstwelt ist die Vermischung von Interessen, das Primat des Marktes. Welche Rolle spielen dabei die Museen, welche Privatsammler?
EWH: Die Schweiz ist vermutlich das Land der Glückseligen. Es hat eine enorme Dichte an grossartigen Museen und die Privatsammlungen sind hier von einer Qualität und Tiefe, mit so grosser Kennerschaft zusammengetragen, dass einem ganz ehrfürchtig wird. Es gibt viele Familien in der Schweiz, die seit Generationen sammeln und die Werke der Öffentlichkeit schenken oder Stiftungen damit einrichten. Die Familie Bechtler in Zürich ist so ein Beispiel, oder nehmen wir mal das Werk von Ernst Beyeler in Basel. Und ehrlich gesagt, ich kenne in der Schweiz keinen einzigen Sammler, der bloss auf Marktwertsteigerung spekuliert. Dem Werbemogul Saatchi in London hat man das möglicherweise zu Recht unterstellt. Und mir scheint es nicht einmal sooo verwerflich zu sein. Die Liebe zur Kunst muss auch bei den Spekulanten dabei sein, sonst würden sie in etwas anderes investieren. Irgendwie gehört dieser Thrill, dieser Jagdinstinkt auch zum Kunstbetrieb dazu. Kunst ist auch Abenteuer und Kunst ist manchmal nicht politisch korrekt. Das ist beim Kunstsammeln nicht anders.
EV: Prägen Sammler und ihre teuren Werke das allgemeine Bild darüber, was gute Kunst ist?
EWH: Wir haben schon darüber gesprochen, in welch komplexen kollektiven Wellenbewegung der Wert der Kunst ermittelt wird. Bestimmt sind Sammler ein Faktor innerhalb dieses Geschehens, sie sind aber nicht allmächtig. Der Wert wird von allen Akteuren bestimmt – von den Sammlern, Künstlern, Beratern, Kuratoren, Auktionshäusern, Gallerien, Museen, Nonprofit-Spaces etc etc Nicht zuletzt auch von uns Journalisten, wenn auch bestimmt nicht an erster Stelle. Einige Sammler träumen davon, ihre Sammlungen nach dem Tod einem Museum schenken zu können, damit sie nicht auseinandergerissen werden. Doch diese platzen selbst aus allen Nähten. Zeitgenössische Kunst ist voluminös geworden. Museen haben mittlerweile genau so viel Mühe, tolle Sammlungen an Land zu ziehen, wie mittelmässige Sammlungen abzuwehren. Da entsteht Konfliktpotential. Wird ein Sammler abgewiesen, wendet er sich nicht selten an die Zeitungen, damit sie seine Seite ergreifen.
Was Kunstkritiker*innen künftig können müssen
EV: Wie sieht die Zukunft aus – wenn Zeitungen vor allem im Kulturteil Geld einsparen, Bloggen sich nicht bezahlt macht und abendliche Diskussionsrunden sehr kräftezehrend sind, welche Aussichten haben wir als Kulturpublizistinnen noch?
EWH: Die Landschaft ist noch in Bewegung, und begabte Schreiberinnen und Schreiber, die Kunst und Kultur reflektieren können, wird es bestimmt auch in Zukunft brauchen. Gerade jetzt zeichnet sich ein Trend zur Kunstpublizistik ab, die mit kommerziellen Galerien eng verbunden ist. Kürzlich sind etwa zwei neue Kunstmagazine erschienen: etwa «Arles» der Mäzenin Maja Hoffmann oder «Ursula» der Galerie Hauser und Wirth, es sind beides hochstehende Publikationen, auch wenn sie nicht unabhängig sind. Texte für solche Formate zu verfassen ist bestimmt eine schöne Aufgabe. Aber auch eine unabhängige Online-Publikation wie etwa das «Hyperallergic» in den USA hat heutzutage Aussichten auf ein einigermassen funktionierendes Geschäftsmodell. Mit etwas Mut und Unternehmergeist kommt man vielleicht noch auf andere Ideen?
EV: Kannst du uns ein Rezept geben, wie man an eine Ausstellung herangeht und eine gute Kunstkritik schreibt?
EWH: Ein Rezept gibt es nicht, man muss immer eine neue Idee haben. Wenn man mit einem Kriterienraster an die Sache herangeht, ergibt das keinen interessanten Text. Meiner Erfahrung nach ist Schreiben immer auch ein bisschen kreatives Leiden. Das Schwierigste ist der Anfang. Man muss quasi ein paar Schritte zurückgehen und sich überlegen: Was ist das Momentum von meinem Erlebnis in dieser Ausstellung? Was hat mich frappiert? Nicht Bild nach Bild beschreiben. Ich glaube, jeder Text muss einen Erkenntnisgewinn enthalten, der originell oder unerwartet ist. Es braucht eine Überlegung, eine Geschichte. Die kann man nicht mit einem Raster vorausbestimmen. Sie muss einem einfallen, was auch mit Inspiration zu tun hat.
EV: Wie verhält es sich mit subjektiven Wertungen in Rezensionen?
EWH: Eine sehr subjektiv ausgedrückte Meinung sollte ein Spezialverfahren sein, wenn einem etwas besonders am Herzen liegt. Wenn man es ständig anwendet, wird es erstens inflationär und zweitens sind wir als professionelle Kulturkritiker einem grösseren Zusammenhang verpflichtet als nur unserem eigenen Erfahrungshorizont. Wir schreiben nicht, was uns gefallen hat, sondern inwiefern etwas gut sein könnte, gross gesagt vor dem Hintergrund von allem, was es schon gab und was es noch geben wird. Wenn man noch am Ausbilden seines Stils ist, sollte man bei subjektiver Meinung Disziplin walten lassen.
EV: Sind Wertungen nicht immer von subjektivem Empfinden geprägt?
EWH: Es gehört zum Werkzeug des Kulturkritikers und des Kulturjournalisten, von der eigenen emotionalen Verfasstheit abstrahieren zu können – auch wenn man sie durchaus als ein Element der Erkenntnis – oder der Erzählung – nutzen kann. Diese Fähigkeit braucht es, um über Kultur zu schreiben. Allzu fanatische emotionale Engagiertheit ergibt einen blinden Fleck. Man muss Abstrahieren können. Wie man aber die Kritik ausdrückt, das ist dann Schreibkunst. Ob in der Pose des Grosskritikers oder indem man als besonders demütiger Kulturarbeiter auftritt und trotzdem seinen Senf dazu gibt. Oder ob man mit den eigenen emotionalen Erwartungen dem Werk gegenüber im Text spielt und sie unterläuft.
EV: Es wird gesagt, der Ton der Kunst-, aber auch der Literatur- und Filmkritik, sei zu freundlich geworden, niemand getraue sich mehr zu sagen, etwas sei schlecht. Könnte an diesem Vorwurf etwas dran sein, weil die Kritiker befürchten, eine schlechte Beurteilung würde als naive emotionale Wertung gelesen?
EWH: Das hat auch damit zu tun, dass der Platz auf den Kulturseiten so knapp geworden ist. Man überlegt sich zweimal, ob man die kostbaren Zeilen für etwas verwenden will, was man schlecht findet. Andererseits, wenn es sich um ein Kulturereignis handelt, welches mit Spannung erwartet wurde, dann macht auch ein Verriss Sinn. Weil man davon ausgeht, dass die Leser darüber informiert werden möchten.
EV: Vom Thema Rezension zum Thema Interviewführung: Wie lockst du Neues und Unbekanntes aus prominenten Interviewpartnern heraus?
EWH: Da gibt es tatsächlich eine Technik. Diese Personen absolvieren oft einige Interviewrunden hintereinander und alle stellen ihnen die gleichen Fragen. Man muss also eine erste Frage stellen, die sie so verblüfft, dass sie aus ihrer Trance erwachen. Dann hat man eine Chance, dass sie auf einen eingehen. Viele sind sogar froh, wird die Routine durchbrochen. An Festivals ist dies allerdings fast unmöglich. Die Stars sitzen in einem Raum und die Journalisten werden in Viertelstundenslots reingeführt, wie die Schafe in Gruppen. Alle stellen die gleichen Fragen, furchtbar unangenehm. Das Highlight ist, wenn es einem trotzdem gelingt, einen menschlichen Kontakt herzustellen. Manchmal muss man sich im Voraus besonders geschickte Fragen überlegen, damit sich das Gegenüber offenbart. Bei der Interviewtechnik ist es wichtig, keine plakativen Frontalfragen zu stellen, da gehört ein kreativer Anteil dazu. Was frage ich, damit er oder sie mir eine Antwort auf eine andere Frage gibt?
EV: Ist es, wenn man ein grosses Netzwerk in der Kunstwelt hat, schwierig, niemandem auf die Füsse zu treten? Wenn du zum Beispiel über eine Ausstellung schreibst, deren Kuratorin du kennst?
EWH: Die reine Lehre wäre, dass man sich von Bekanntschaften und Freundschaften nicht beirren lässt. Die Realität ist so, dass man im besonders heiklen Fall lieber nichts schreibt oder die Sache einem Kollegen überlässt. Trotzdem gibt es auch kleine Beziehungsdelikte, man ist ja nur ein Mensch. Die Schweizer Kunstszene ist so klein, da muss man nicht selten heikle Situationen bewältigen. Es ist unproblematischer, einen Hollywoodschinken in den Boden zu stampfen als einen Schweizer Film.
EV: Hast du einen weiteren Tipp an angehende Kulturpublizistinnen?
EWH: Ich finde es mutig, wenn man heute Kulturpublizistin werden möchte. Zu diesem Mut soll man stehen und seinen ureigenen Eingebungen folgen! Und dennoch daran denken, dass wir in einer Zeit der prekären Aufmerksamkeitsökonomie leben. Man kann nicht davon ausgehen, dass sich Leser für eine Sache einfach so interessieren. Entweder haut man auf die Pauke oder man lockt sie in die Nische. Blöd ist nur, wenn man sowohl das grosse Publikum wie die Bewunderung der Eingeweihten will, denn das geht selten zusammen.