Von Jacqueline Beck
Dieser Text erschien erstmals am 12.3.2012 auf kulturkritik.ch
Internet und soziale Netzwerke eröffnen der Kulturpublizistik und Kulturschaffenden neue Spielräume: Online konsumiert ein Nutzer unabhängig von Ort und Zeit kulturelle Inhalte, kommentiert und empfiehlt weiter, nimmt so am gesellschaftlichen Diskurs teil und generiert auch eigene Beiträge. Medien- und Kulturschaffende sind gefordert in der Frage, wie sie dieses Potential nutzen. Multimediaformate wie die Webdokumentationen «360 Grad Langstrasse» von SRF und «Planet Galata» von ARTE zeigen beispielhaft, in welche Richtung die Reise gehen könnte.
Abstecher in die Zürcher Langstrasse: Wie bei Google Street View durch die Zürcher Rotlicht-Meile fahren. Strassenlärm und Gelächter da und dort, Velos und Autos, die einen überholen, während man sich umschaut. In schwarzen und roten Sprechblasen öffnet sich einem ein Universum: Da sind Tweets aus aller Welt, die das Wort «Langstrasse» enthalten, und quasi als Eingangsschilder fungierende Stichworte, die zum Besuch eines Schulhauses, Tattoo-Studios oder des Clubs Zukunft einladen. Dann bricht die Internetverbindung zusammen. Kein Wunder, denn es ist eine gewaltige Datenmenge, die man beim Surfen auf der Webdokumentation «360° Langstrasse» des Schweizer Fernsehens abruft. Sie verwebt Panorama- und Klangbilder, Videointerviews und Kurztexte zur animierten und interaktiven Multimedia-Plattform.
«Die Webdokumentation 360° Langstrasse war eine Art PR-Aktion für die fünfteilige Dok-Serie, die wir auf SF1 ausstrahlten», kommentiert Christoph Müller, Redaktionsleiter Doku-mentarfilme und Reportagen beim seit Anfang 2011 konvergierten Schweizer Radio und Fernsehen, gegenüber kulturkritik. ch. Man habe ein junges, urbanes Publikum ansprechen wollen, wofür sich das Internet sehr gut eigne, ergänzt Online-Redaktorin Sibylle Winter auf Anfrage. Mit der auf HTML 5 – statt, wie herkömmliche Websites, auf der Flash-Technologie – basierenden visuellen Sprache, die das Erlebnis Strasse in den Vordergrund stelle, habe man nicht nur weltweit mithilfe von Twitter die Aufmerksamkeit von Internet-Nutzern auf sich gezogen, sondern sei auch in der Webdesign-Szene international auf Echo und Lob gestossen. So verlieh die internationale «Awwwards»-Jury «360° Langstrasse» Ende Januar 2012 den Titel «Site of the Year 2011».
Mehr als ein PR-Vehikel
Die Webdokumentation erweitert und ergänzt die Doku-Serie, macht den Zuschauer zum User. Hat er in der Folge «Seide, Sex und Nasensalbe» am TV die Sexarbeiterin Jenny und ihr Arbeitsumfeld kennengelernt, so eröffnet ihm die Webdokumentation mit dem Besuch der Isla Victoria, einer Beratungsstelle für Frauen, die im Sexgewerbe arbeiten, einen weiteren Blickwinkel auf die Thematik. Hat er das Seidenatelier von Andi Stutz im Fernsehen nur im Hintergrund gesehen, so kann er es jetzt im Web mit Rundumblick begehen.
«360° Langstrasse» ist ein Beispiel dafür, wie man die Grenzlinie zwischen Journalismus, Dokumentarismus und Kunst ausreizen und den Rezipienten aktiv involvieren kann. Auch die Webdokumentation «Planet Galata – Eine Brücke in Istanbul» des deutsch-französischen Kulturfernsehens ARTE geht diesen Weg. Hier klickt man sich durch Videoausschnitte des Dokumentarfilmers Florian Thalhofer, die Einblick in das Leben von Menschen in der türkischen Hauptstadt geben. Zum Beispiel in das des Friseurs, der seinen Salon vor acht Jahren im Fussgänger-Korridor auf der unteren Ebene der Brücke eröffnete und heute täglich 300 bis 400 Kunden den Bart oder die Haare schneidet. Oder in das der ehemaligen amerikanischen Opernsängerin, die in der Stadt am Bosporus ihre wahre Heimat fand. Oder in das des Jugendlichen, der auf der Brücke Spielzeug-Mäuse verkauft, aber eigentlich Arzt oder Lehrer werden wollte. Der User bahnt sich seinen Weg über die Brücke und stellt so seinen eigenen Film zusammen. Wenn er will, lädt er selbst Videos und Fotos von Istanbul hoch. «Planet Galata» wird damit zum Archiv und Ort der kollektiven Wahrnehmung.
Unkalkulierbarer Erfolg
User Generated Content (UGC) nennt sich dieses Konzept in der Fachsprache. «UGC ist eine Art Ausweitung von Oral History», so SRF-Redaktionsleiter Christoph Müller. Menschen beschreiben ihre Lebenswelt – heute nicht mehr nur mündlich, sondern mit Fotos, Videos und Kommentaren im Internet. «Das Arbeiten mit UGC ist aber nach wie vor auch ein grosses Tappen im Nebel, denn oft ist unberechenbar, was funktioniert und was nicht», gibt Christoph Müller zu bedenken. Wie unwägbar die Reaktionen sind, zeigt das von SF realisierte Web-Projekt «Wir über uns». Zwei Kinder dokumentierten mit der Kamera ihren Alltag in der Siedlung Grünau am Stadtrand von Zürich – daraus entstand eine viel beachtete «Reporter»-Sendung. Der Aufruf an Kinder aus anderen Gemeinden und Schulen, es den beiden gleichzutun und eigene Beiträge auf die SF-Website zu laden, stiess dann jedoch, so Christoph Müller, auf überraschend wenig Echo.
Aufwändige Webdokumentationen wie diejenigen von SRF und ARTE sind in ihrer Wirkung auch deshalb schwer voraussehbar, weil Klickraten keine Auskunft darüber geben, ob ein User männlich oder weiblich, jung oder alt, arm oder reich ist. Entsprechend schwierig ist es, Schlüsse zu ziehen für die Ausrichtung von Angeboten und die Definierung von Zielgruppen. Nichtsdestotrotz haben solche interaktiven Multimedia-Formate ein hohes Potential. Im Erfolgsfall generieren sie nicht nur einen direkten Mehrwert, sondern erhöhen auch die Bin-dung mit einem neuen, internet-affinen Publikum. Kommt hinzu, dass Online-Beiträge, wenn sie in sozialen Netzwerken Aufmerksamkeit erregen, eine längere Nutzungsdauer haben als Zeitungsartikel und Sendungen in TV und Radio, die darüber hinaus nur ein geographisch eingeschränktes Publikum erreichen. «360 Grad Langstrasse» verzeichnete in den ersten sieben Wochen nach dem Launch Mitte August 2011 90’000 Besuche und 900 Tweets aus 15 verschiedenen Ländern. Noch im Dezember zählte die Seite 25’000 Besuche.
Die Kulturpublizistik ist gefordert, einen kreativen und gleichzeitig nutzbringenden Umgang mit den sich rasch fortentwickelnden Möglichkeiten im Internet und mit sozialen Netzwerken zu finden. Besonders vielversprechend sind Modelle, die nicht nur inhaltlich, sondern auch im Bereich Design und Technologie Neues zeigen: wo der Besuch der Seite zum Erlebnis wird. Und wo Inhalte personalisier- und teilbar werden. Bei Webdokumentationen im Stil von «360 Grad Langstrasse» und «Planet Galata» wird es kaum bleiben. Eher haben Medien und Kunst als Räume der Konstruktion des Wirklichen die wesentlichsten Schritte der Digitalisierung noch vor sich.
Jacqueline Beck, Jahrgang 1985, hat Ethnologie und Medienwissenschaft an der Universität Basel studiert und 2014 den Master Art Education, Vertiefung Kulturpublizistik, an der Zürcher Hochschule der Künste abgeschlossen. Sie arbeitet als PR- und Promotionsverantwortliche für ein Radio.
Dieser Text wurde ertsmals in der Rubrik KulturMedienWandel, einem gemeinsamen Gefäss von kulturkritik.ch, Migros Kulturprozent Online und der Plattform Kulturpublizistik veröffentlicht. In dieser Rubrik werden Phänomene und Entwicklungen im Schnittfeld von Kultur und Medien aufgegriffen, reflektiert und kommentiert.