Von Ruedi Widmer
Auch in digital-demokratischen Zeiten haben wir eine Verwendung für den Künstler, Verkörperung von Ruhm und Genie (hier als Stelle freigehalten für Edward Norton, US-Filmschauspieler mit Star-Statur) und die ihm gegenüber tretende Verkörperung des Publikumsinteresses (hier als Stelle freigehalten für Eric Kohn, Chefredaktor Indiewire mit Reichweite). Es ist der Donnerstag der ersten Festivalwoche in Locarno, das erste sogenannte Q&A. Beide kommen sie, sehr casual gekleidet, aus der semi-profanen Ebene des Lebens (Flughafen, Hotelzimmer, Limousine) in den Raum herein, der hier in Sommer-Locarno in besonders idealtypischer Weise temporär auf die grüne Wiese eines Freizeitszentrums hingebaut ist: eine 30 mal 30 Meter messendes, um 0.5 Meter über Boden erhobene Bühne gerahmt von einem nach alle Seiten offenen kubischen Stahl-Skelett mit Dach. Vorerst drängeln sich die Interessierten, das „Fussvolk“ der Journalisten, die Interessierten und die Fans, fächeln sich Luft zu. Die Fotografen mehren und balgen sich. Wenn die beiden Verkörperungen angekommen sein werden, hereingeführt vom Festivaldirektor, und wenn Norton die Fotografen auf ihre Plätze zurückverwiesen haben wird („Weg hier! Wenn ihr in dieser Zeit mehr als zwei Versuche für ein gutes Bild braucht, seid ihr fehl am Platz.“), werden sie fast wie privat miteinander über die Karriere des Stars plaudern. Kohns Augen immer auf Norton, Nortons Augen immer wandernd, meistens in Richtung Dach und Himmel, Hunderte von Bildern und Quotes sind dann schon auf dem Netz. Hinter ihnen werden Sicherheitskräfte stehen, links drei, rechts drei, in ihren Monturen, mit ihrer höchst intensiven Aufmerksamkeit das Volk beobachten (die Erzählungen des Schauspielers vollkommen ignorieren) und des Volkes mögliches Begehren nach Berührung oder Profanisierung durch ihre Präsenz in Schach halten.