Von Philipp Spillmann
»Geheimsache Ghettofilm« ist ein Dokumentarfilm über eine nationalsozialistische Filmproduktion. Er holt die Realität zurück, die die Propagandamaschinerie einst verzerrte.
Der Film beginnt schlicht. Eine Kamerafahrt: langsam, beständig. Durch einen leeren, grauen Kellergang. Neonlicht an den Wänden, Rohre an der Decke. Und eine Stimme aus dem Off: »Dies ist die Geschichte eines Films, der nie fertig gestellt wurde. Ein Film, der dem Dritten Reich als Propagandamaterial dienen sollte. Jener Diktatur, die ihre Bösartigkeit so leidenschaftlich und systematisch dokumentierte wie keine vor ihr.«
Der Film, von dem die Rede ist, trägt keinen Titel. Es handelt sich um sechzig Minuten loses Bildmaterial, das Jahre nach Kriegsende in einem versteckten Bunker der Nationalsozialisten im Wald gefunden wurde. Die Aufnahmen haben keinen Ton, keinen Abspann, keinen Titel. Die Filmrollen sind lakonisch beschriftet, mit einem einzigen Wort: »Ghetto«. Gemacht wurden die Aufnahmen im Ghetto von Warschau, im Mai 1942, nur wenige Monate, bevor die Deportationen begannen. Lange hielt man sie für einen dokumentarischen Rohschnitt. Sie wurden in Archiven verwendet und in Museen ausgestellt. Bis im Jahr 1998 Restmaterial auftauchte, das deutlich zeigt, dass die Aufnahmen gestellt sind. Gefilmt und geschnitten von einem professionellen Filmteam, in Szene gesetzt mit Requisiten, Schauspielern und Bewohnern des Ghettos.
Die deutsch-israelische Filmemacherin Yael Hersonski hat die Geschichte dieses Bildmaterials in ihrem Dokumentarfilm »Geheimsache Ghettofilm« (2009) kritisch nacherzählt. 2013 machte die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) den Film auf ihrer Webseite zugänglich, zusammen mit einem umfangreichen Dossier zu seinen Hintergründen. Hersonski gelang es, anhand der Aufnahmen der Nazis gerade das zu erzählen, was mit dem Film gefälscht werden sollte: Die Geschichte der Lebensumstände im Warschauer Ghetto, dem grössten, von den Deutschen eingerichteten jüdischen Ghetto, das es in Europa gab.
Seit Anfang 1940 lebten hier rund eine halbe Million Menschen, eingesperrt auf einer Fläche von gerade einmal drei Quadratkilometern, umfasst von einer drei Meter hohen, 18 Kilometer langen Mauer, deren Kosten die Juden selbst tragen mussten. Überwacht von deutscher, polnischer und einer eigens eingesetzten jüdischen Polizei, wurden rund 30 Prozent der Bevölkerung auf 2.4 Prozent des Stadtgebiets zusammengepfercht. Am 1. Mai 1942 erhielt Adam Czerniaków, der von den Deutschen eingesetzte Vorsitzende des 24‑köpfigen Judenrats, die Nachricht, dass in den kommenden Tagen im Ghetto gefilmt werden soll. Von wem der Befehl kam und wozu das Filmmaterial genau dienen sollte, bleibt bis heute ungeklärt.
Hersonski konnte Zeitzeugen und schriftliche Dokumente von Ghetto-Bewohnern ausfindig machen. Sie liess die stummen, inszenierten Aufnahmen von den eindrücklichen Geschichten dieser Personen begleiten, kommentieren, denunzieren. Sie zeigt, wie Nationalsozialisten die Einwohner zwangen, für verschiedene Takes verschiedene Stellungen einzunehmen, Fremde in ihre Wohnungen zu lassen oder über Leichen zu steigen. Eine Art Kino-Wahn, bei dem die Bewohner wie Requisiten behandelt und die Stadt als Studio betrachtet wurde. Ein Wahn, der die Ghettobewohner zu Zuschauern ihres arrangierten Leids werden liess. Inszeniert auf einer künstlich geschaffenen Live-Bühne und unter Einsatz derselben filmischen Realitätsverzerrungen, von denen sechzig Jahre später die Regisseure des Reality-TV Gebrauch machten.
Unter dem Blickwinkel dieses Kino-Wahns war das Ghetto schon von Anfang an eine Kulisse. Ein Experiment, bei dem die Normalität ausser Kraft gesetzt ist und das durch die Regie der nationalsozialistischen Ordnungskräfte surreale Szenen hervorbringt. Die kinematische Wahnvorstellung gipfelte dann darin, die reale Inszenierung durch eine filmische weiterzuführen.
Analysiert man das Ghetto mit diesem Blick, wird deutlich, wie scharfsinnig Hersonskis Film seinen Gegenstand und dessen Kontext in Szene setzt. Die ehemaligen Bewohner des Ghettos sehen die nationalsozialistischen Aufnahmen in einem Kinosaal. Hersonskis Kamera hält dicht auf sie. Sie stehen ausserhalb des Films, sind weder Statisten noch Requisiten, sondern Moderatoren. Sie erinnern sich durch den Ghetto-Film an das, was der Film verschweigt. Die Idee der Propaganda kehrt sich also um: Statt ein Hilfsmittel zu sein, die Realität filmisch zu verzerren, wird der Film als Instrument genutzt, das von ihm Verdrängte zurück in die Realität zu holen.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.
Links zum Thema:
Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/geheimsache-ghettofilm/