Eine Handvoll angehender Kulturpublizistinnen verfolgte vergangenen Donnerstag Kathrin Passigs Gastreferat zum Thema „Automatische Kunstkritik“. Der Master Kulturpublizistik hatte zum „Kunstbeurteilungsstammtisch“ eingeladen. Neben den Master-Studentinnen fanden sich auch geladene Gäste: Kulturpublizisten, die in Jurys oder Kommissionen als Kunstbegutachter, Preisverleiher, Förderer oder Verhinderer tätig sind. Passig ihrerseits hat dieser Tätigkeit abgeschworen – die Konsequenz aus ihrer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Objektivität der Ästhetik.
Die Automatische Literaturkritik (ALK) ist ein von Passig im Umfeld der „Tage der deutschsprachigen Literatur“ – besser bekannt als Bachmann-Preis, dessen Preisträgerin Passig 2006 war – mitentwickeltes Projekt. Das Verfahren ermöglicht die Bewertung von Texten mittels Punktevergabe nach handfesten Kriterien, zu denen jeder beitragen kann, so er denn Kenntnis von der Existenz des ALK hat. Die so durch die (zurzeit zahlenmässig eher bescheidene) Crowd generierten Kriterien werden von Kathrin Passig und Angela Leinen aufgrund ihrer Expertise und persönlichen Vorlieben kuratiert und anhand einer Checkliste an den in einem Parallelwettbewerb auf die eingereichten Texte angewendet. Bisher wurde der Preis der ALK sechsmal vergeben. (Vollständige Kriterienliste hier)
Die Kriterien des ALK verstehen sich auch als „Absage an ein sinnentleertes Fachvokabular, das scheinbar willkürlicher operiert, als nachprüfbare Einzelvorkommen“. Inhaltliche Pluspunkte sind demnach das Vorkommen von Raumfahrt, Dinosauriern, Stoffservietten und Schusswaffengebrauch (2 Punkte bei automatischen Waffen), Negativpunkte holen sich die bewerteten Autoren bei Erwähnung von Nationalsozialismus, Ostzonen-Tristesse, Folter in Chile oder mit der Verwendung von Parataxenstakkato und Anaphern-/ Epipherngetöse*. Offenbar will man sich dem Fachjargon doch nicht vollständig verschliessen.
Passigs Vortrag zeigte durchaus einleuchtende Argumente für diesen Ansatz auf – von der Einsicht, dass die kollektive Intelligenz der Literatur-Bewerter im Web 2.0 mehrheitlich zu den gleichen Qualitätsurteilen gelangt wie die Rezensenten im Feuilleton über die Effizienz von Checklisten im Allgemeinen bis zur offensichtlichen Schwierigkeit, Kriterien wie „innere Kohärenz“ zu objektivieren.
Sie bewegte sich damit einmal mehr souverän auf dem Grat zwischen heiterer Provokation und Systemkritik: „Bewertungskriterien wie der von Tex Rubinowitz stammende Pluspunkt ‚Vorkommen von feuchten Frotteetüchern oder miefigen Sporttaschen‘ können unaufmerksame Betrachter zu der Annahme verleiten, die Automatische Literaturkritik sei ein Scherz. Sie ist aber überwiegend ernst gemeint.“
Um diese Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung nachzuvollziehen, empfiehlt es sich, die Entstehungsgeschichte des ALK, von Passig hier ausführlich beschrieben, nachzulesen. Im Rahmen des Stammtisches schien sie sich dem Publikum jedoch nur bedingt zu erschliessen. Passigs stets auch spielerischer Ansatz und die lockere Vermischung von formalen und inhaltlichen Kriterien sorgte für eine gewisse Ratlosigkeit. Passig schreibt dazu „Gerade die albernen und idiosynkratischen Kriterien der ALK (…) erinnern daran, dass es sich nicht um ein Verfahren zur Bestimmung des ‚objektiv besten‘ Textes handelt.“ Demnach geht es beim ALK darum, die Subjektivität einer Beurteilung erfassbar zu machen. Am Stammtisch blieb im Raum die Frage stehen, was damit gewonnen wird. (KS)
* Die Epiphora, auch Epipher (von griechisch ἐπιφορά epiphorá ‚Hinzufügung, Zugabe‘), bezeichnet als rhetorische (Wort-)Figur die einmalige oder mehrfache Wiederholung eines Wortes oder einer Wortgruppe am Ende aufeinander folgender Sätze oder Verse. Die Anapher (von griechisch ἀναφορά: anaphorá: das Zurückführen, die Rückbeziehung; >ἀναφέρω bzw.ἀναφορέω: zurückführen, beziehen auf; vgl. lat.: refero) ist ein rhetorisches Stilmittel; sie bezeichnet die (einmalige oder mehrfache) Wiederholung eines Wortes (oder einer Wortgruppe) am Anfang aufeinander folgender Verse, Strophen, Sätze oder Satzteile. Quelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Epiphora_(Rhetorik)&redirect=no, http://de.wikipedia.org/wiki/Anapher