Von Philipp Spillmann
Reportagen schreiben heisst immer, Geschichten zu erzählen. Mitunter heisst es aber auch, Geschichte zu schreiben. Mit dem Internet haben sich die diesbezüglichen Möglichkeiten und Ansprüche allerdings radikal geändert. Ein Beispiel.
2014 jährte sich der Ausbruch des ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Daraufhin gaben zahlreiche Medien umfassende Web-Dossiers zur Kriegsgeschichte heraus. Die NZZ zum Beispiel veröffentlichte neben dem »Dossier: Erster Weltkrieg« nicht nur ein »Ressort Erster Weltkrieg«, sondern auch Fotostrecken und Texte zu Hintergründen, Naherfahrungen und Augenzeugenberichten. Nicht nur das Kriegsgeschehen, auch das Kriegserlebnis wurde so umfassend wie möglich nacherlebbar gemacht.
Das Besondere an dieser Form von Geschichtsschreibung ist die Art und Weise, wie die Geschichten organisiert sind. Es handelt sich nämlich um Artikel, die jeweils einen einzelnen Aspekt der Kriegsgeschichte herausgreifen und bündig abhandeln: Mini-Essays, Kurzanalysen und Kleinreportagen, die in Geschichten des Krieges hineinschreiben. Eine Sammlung von Beiträgen, die von Geschichten handeln, sich erzählerisch aber zu keiner kongruenten Geschichtsschreibung zusammenfügen. Mit anderen Worten, es geht nicht um das Schreiben von Geschichte, sondern um die Bildung eines Gedächtnisses. Die Texte haben in erster Linie nicht die Funktion, Ereignisse zu ordnen, sondern, an sie zu erinnern. Die Organisation dieser Texte (etwa zu einem Dossier) ist die Organisation von Erinnerungs-Stücken.
Das trifft auch auf gedruckte Sonderausgaben zu. Was ist jetzt also das Besondere, wenn die Texte digital veröffentlicht werden? Online-Dossiers etablieren ein Gedächtnis, das aus dem Archiv des jeweiligen Mediums schöpft. Im Fall des »Dossier: Erster Weltkrieg« ist das der mit Tags versehene Artikelbestand von NZZ-Online. Die Seiten sind so eingerichtet, dass auf ihnen durchgehend die Vorschau zu ähnlichen Beiträgen oder zu anderen Dossiers zu sehen ist, aber auch zu thematisch weiter entfernten Artikeln. Und die Dossiers selbst basieren im Normalfall auf Beiträgen, die auf einer zweiten Seite, in einem anderen Kontext erscheinen (können). Kurz: Die Assoziationsketten des Themas verschwimmen mit denen des Mediums.
Dossiers wie »China Unterwegs« der NZZ oder Rubriken wie »Mächtige Internetriesen« der FAZ sind neben ihrem Beitrag zum kollektiven Gedächtnis also immer auch ein Ausdruck des medieneigenen Gedächtnisses. Das ist grundsätzlich bei allen Artikeln im Web so. Nur, mit Dossiers, Sonderausgaben, Blogs und Rubriken wird diese assoziative Ordnung institutionalisiert. Es handelt sich dann um Mediengedächtnisse, die so auftreten wie eine historische Fakultät.
Das kann problematisch werden, muss es aber nicht. Das Schreiben über Geschichte ist immer auch ein Schreiben von Geschichte. Wer über historische Ereignisse schreibt, hat die Kontrolle darüber, wie diese Ereignisse dargestellt werden. Dazu gehört etwa die Auswahl, was überhaupt in den Text kommt, oder die Art und Weise, wie daraus Zusammenhänge abgeleitet werden. Natürlich lässt sich nie »alles« erzählen und nicht selten ist unklar, welche Fakten wirklich relevant sind. Grundsätzlich steht jede Institution, die Geschichtsschreibung betreibt, vor diesen Problemen. Was Zeitungen, Magazine etc. angeht, bestehen zwei besondere Gefahren: Erstens haben Medien eine ideologische Agenda. Mit dem, was sie sagen wollen, müssen sie sich gegenüber anderen Stimmen positionieren. Das Schreiben über die Vergangenheit könnte demnach dazu dienen, die Gegenwart innerhalb vorgefertigter Sichten darzustellen. Zweitens haben Medien eine publizistische Agenda. Faktoren wie Aktualitätsbezogenheit, Verweise, Links, Textlänge etc. beeinflussen die Umsetzung eines Stoffes. Wo statt sachlichen Entscheidungen publizistische im Vordergrund stehen, entsteht die Gefahr der Vereinfachung und Verkürzung.
Wo und wie weit diese Befürchtungen auf die Realität zu treffen, kann gut anhand von Beispielen untersucht werden. Eine geeignete Rubrik ist »Das historische Bild« der Neuen Zürcher Zeitung, eine Sammlung von Bildern zu Jahrestagen besonderer Ereignisse, die zusammen mit einer kleinen Reportage online veröffentlicht werden. Kurze Erinnerungen an Vorfälle, die vor zwanzig, dreissig oder hundert Jahren die Schlagzeilen beherrscht haben. Das Anliegen der Rubrik, an vergangene Ereignisse zu erinnern, ist löblich und die Idee, diese Vergangenheit über besondere Jahrestage zu vermitteln, auch sehr plausibel. Gerade deshalb ist es wichtig, die Umsetzung näher in den Blick zu nehmen: Wie wird die Vergangenheit erzählt? Was wird ausgewählt, was weggelassen? Wo decken sich Haltungen zu aktuellen Ereignissen mit der Beschreibung der Vergangenheit? Und wie weit wird das alles reflektiert?
Zum Thema Auswahl: Meistens gibt es an einem Datum gleich mehrere mögliche Erinnerungs-Ereignisse und somit eine Art Überschuss an Geschichte. Das historische Bild bearbeitet höchstens ein Thema und es gibt viele Tage, an denen es nicht erscheint. Von einem Unternehmen, das der Geschichtsschreibung verpflichtet ist, könnte man eine höhere Frequenz durchaus erwarten. Nach publizistischen Gesichtspunkten jedoch ist das Weglassen vieler Dinge schon aus rein praktischen Gründen nötig. Aber macht das aus der Rubrik bereits ein unsachliches Projekt, ein »falsches Gedächtnis«; einen als Bildungsmehrwert verkleideten Lückenfüller? Nicht unbedingt. Der massgebliche Einfluss der publizistischen Agenda kann zwar schlecht von der Hand gewiesen werden, aber das muss fachlich nicht zwingend einen Verlust bedeuten. Ein gutes Beispiel dafür ist der 24. April 2015. Für diesen Tag wurde beim historischen Bild ein Beitrag über die Geiselnahme der RAF in der deutschen Botschaft in Stockholm im Jahr 1975 verfasst. Am selben Tag jährte sich aber auch der (datierte) Beginn der Deportationen der Armenier durch das Osmanische Reich zum einhundertsten Mal. Beim historischen Bild wurde nichts darüber geschrieben, dafür publizierte NZZ-Online einige Berichte zum Völkermord und widmete diesem auch ein eigenes Web-Dossier. Dass das historische Bild ein zweites Ereignis behandeln konnte, ist ein fachlicher Gewinn, der einer publizistischen Agenda zugrunde liegt. Gerade diese Agenda lässt die Rubrik aber zur Aushilfskraft verkümmern: Im Härtefall ist sie nicht dafür da, Geschichte zu schreiben, sondern sie zu ergänzen. Für die Gedächtnisbildung ihres Mediums ist sie alles andere als eine Führungskraft.
Was die Bandbreite der Beiträge angeht, ist die Auswahl sehr heterogen. Die behandelten Ereignisse verteilen sich über die letzten zwei Jahrhunderte und den gesamten Erdball. Aber auch hier zeichnen sich Tendenzen ab, historische Bezugspunkte zu wählen, die zu tages-aktuellen Themen passen, etwa ein Beitrag zum Ende des Brasilianischen Kaiserreichs, fast pünktlich zu Dilma Rousseffs Wiederwahl anfangs November 2014. Andere Bezüge sind allgemeiner – und dadurch subtiler (oder schwächer, je nach Sichtweise), zum Beispiel der Artikel über Sowjetische Machtpolitik (Ukraine-Krise) oder das Attentat auf Theo Van Gogh (Islamischer Staat).
Was bedeutet nun diese Abhängigkeit der Erinnerungsberichte von der medialen Gegenwart? Die Artikel, bei denen ein solches Abhängigkeitsverhältnis zutrifft, erhalten den Status von Vorgeschichten. Problematisch ist das dann, wenn die Vorgeschichte zur latenten Prophezeiung wird. Wenn etwa zum Zeitpunkt, an dem die Schwedische Regierung in ihren Gewässern nach einem russischen U-Boot fahndet, ein Text über ein sowjetisches U-Boot geschrieben wird, das einst im selben Gebiet gefunden wurde, ist der sehr fragwürdige Vergleich zum kalten Krieg bereits Programm. Und wenn ein Beitrag zum Langen Marsch bereits im Teaser als »panische Flucht« bezeichnet wird, als »Masseneinwanderung«, die für den Aufstieg Maos »essenziell« war, gibt das deutlich vor, unter welchen düsteren Vorzeichen zeitgenössische Migrationsbewegungen gelesen werden sollen.
Nur einen Klick entfernt von aktuellen Beiträgen – je nach dem sogar auf der Startseite –, nehmen solche Geschichten die Deutung der Gegenwart immer schon vorweg. Eine Gegenwart, die eigentlich erst noch in Verhandlung ist. Damit wird das Aktuelle nicht als vorläufiges Resultat und vieldeutiges Konstrukt verstanden, sondern als schicksalhaftes Produkt eines quasi unausweichlichen geschichtlichen Werdegangs. So wird die Haltung des Mediums zu den aktuellen Themen durch die skizzierte Vergangenheit nicht nur gefestigt, sondern auch legitimiert.
Alles in allem sind diese Beispiele für die NZZ und das »Historische Bild« wenig repräsentativ. Dennoch sind sie symptomatisch. Bei ihnen zeigt sich, wie ein Medium seine Gegenwart durch das Erzählen der Vergangenheit umdeuten oder sogar legitimieren kann. Etwas Letztes kommt nun noch hinzu: Die Artikel des historischen Bilds repräsentieren kein echtes mediales Gedächtnis. Es handelt sich gerade eben nicht um Beiträge, die zur Zeit der behandelten Ereignisse geschrieben wurden, sondern um Rückblicke, welche die Erinnerungen hier und jetzt schaffen. So bilden sie das mediale Gedächtnis quasi aus sich selbst. Die Geschichtsschreibung wird, dem Namen der Rubrik entsprechend, zur Abfolge historischer Bilder.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.
Links zum Thema:
»Dossier: Erster Weltkrieg« http://www.nzz.ch/dossiers/erster-weltkrieg-2.49079
»Ressort Erster Weltkrieg« http://www.nzz.ch/international/weltkrieg/
»Das historische Bild« http://www.nzz.ch/international/das-historische-bild/