von Max Wild –
Die Welt, so scheint es, befindet sich im Umbruch: Donald Trump ist Präsident der USA, europäische Rechtspopulisten wie Roger Köppel oder Marine Le Pen verschaffen sich mit viel Lärm Gehör und der philippinische Präsident Rodrigo Duterte kündigte unlängst für sein Ziel einer „drogenfreien Gesellschaft“ weitere Morde im eigenen Land an. Sie alle haben etwas gemeinsam: «Political correctness» ist keine inhärente Voraussetzung mehr für konstruktive Debatten, sondern wird von der Rechten als Unwort und Symbol der Unfähigkeit des politischen Establishments proklamiert; Empathie wird in diesem Kontext bestenfalls noch wahlweise verhandelt. Die für alle verbindliche Moral wird unter den Teppich gekehrt, dafür wurden radikale Diskurse wie Sexismus, Fremdenhass und Homophobie wieder auf die grosse Bühne gebracht. Im Jahr 2017 werden Fakten von ranghohen Politikern als unwahr abgetan, Medien zensiert und Verschwörungstheorien vom Präsidenten der Vereinigten Staaten in 140 Zeichen in die Welt hinaus getwittert. Objektivität und Diplomatie erweisen sich in der Debatte gegen Demagogen als zahnlose Tiger. Die Mündigkeit und Freiheit unserer Gesellschaft erfordert es, mit allen legitimen Mitteln für die errungenen ethischen Grundsätze einzustehen – auch im Journalismus, in der Reportage und im Dokumentarfilm.
Doch wie verhält man sich als Reporterin oder Dokfilmer in einer Zeit, in der die Werte der Aufklärung offenbar noch einmal erstritten werden müssen? Was heisst es, in Dokumentationen Partei zu ergreifen, ohne damit bestehende Gräben weiter aufzureissen?
Benutzt man den gleichen polemischen Umgangston wie sein Konterpart, so droht – auch wenn man damit Erfolg haben kann wie Michael Moore – ein Streitgespräch auf Pausenplatz-Niveau. Vielmehr sollten Journalisten Chronisten sein, partei-unabhängig Anliegen aufzugreifen und Bilder, die in der Wirklichkeit keine Grundlage haben, zu entkräften. Eine Gratwanderung, ohne Zweifel. Dennoch ist es keine Utopie, faktentreu Position zu beziehen. Bedeutsame Reportagen wurzeln in Empathie. Es sind Geschichten, die von innen nach aussen erzählt werden und sich einer rein beobachtenden Perspektive entziehen.
Ein Beispiel für dokumentaristische Parteinahme ist Ulrich Seidl: In seinem (zu Teilen inszenierten) Dokumentarfilm «Im Keller» positioniert er sich mit der Kamera in Frontalansicht vor seine Protagonisten und führt den Zuschauer in österreichische Untergeschosse. Hier richtet er die Linse auf Schiessstand, SM-Keller, Jagdtrophäenraum, Nazi-Stübchen und deren Besitzer. Freimütig und ohne Scham inszenieren sich Seidls Landsleute in ihren vier Wänden unter der Erde. Stolz werden die verborgenen Leichen im Keller präsentiert. Seidls Stil polarisiert und sprengt die Grenzen des rein Dokumentarischen. Dennoch vermag er es, den Zuschauer in seinen Bann zu ziehen: Seine Filme sind ungeschönt, ehrlich und immersiv. Seidl nimmt sein Publikum an der Hand und steigt mit ihnen hinab in eine morbide und eigenwillige Welt unter der Erde, ein Untergeschoss des Bewusstseins seiner Protagonisten, die ihrem Exzess dort freien Lauf lassen. Eine Welt, von der die Zuschauer ohne Seidl niemals erfahren würden.
Solche Subkulturen existieren auch an der Oberfläche: Es ist die Welt der Pegida-Mitglieder, der UKIP-Anhänger und der von Hillary Clinton als Deplorables (die Bemitleidenswerten) bezeichneten Trump-Befürworter, die, wie ihre Galionsfiguren, auf die Bühne drängen. Der schon genannte Michael Moore hat einen neuen Film namens „Fahrenheit 11/9“ angekündigt, mit dem er nichts weniger vorhat, als Trumps Präsidentschaft zu beenden. Er macht hin, wie man es von ihm kennt, und wie es ihm offenbar Stephen Bannon, als er unter die Filmer ging, abgeschaut hat, Politik mit filmischen Mitteln. Mit dem Credo von Journalistinnen und Journalisten, die Ursachenforschung betreiben, Probleme und Debatten verschiedener Gesellschaftsgruppen einordnen, in diesem Kontext verhandeln und somit gemeinschaftsstiftend in den Diskurs einwirken, hat das nicht allzu viel zu tun.
Viel mehr ein Gratwanderer zwischen dem Anspruch des Dokumentaristen und der politischen Parteiname war Niklaus Meienberg. Als »Seismographen, der die Beben anrollen spürte, bevor sie jemand wahrnahm«, hat ein deutscher Journalist den Schweizer Reporter und Autor einmal beschrieben. Seine Tonart war zu Teilen schroff und derb, der Inhalt seiner Texte und Filme aber immer wahrheitsgetreu, und deshalb schwer zu entkräften. Seine angriffslustigen Reportagen gelten bis heute noch als beispielhaft für investigativen Journalismus. In der 1984 publizierten Reportage zum Besuch von Papst Johannes Paul II. mit dem verschleiernden Titel O wê, der babest ist zu junc. Hilf, herre, diner Kristenheit entlarvt Meienberg mit den kritischen Augen eines Ethnologen. Als Gläubige bei einer öffentlichen Messe die Treppen hinauf zum Priester steigen, um aus seiner Hand die Danksagung zu erhalten, stellt Meienberg das Beobachtete in einen historischen Kontext: „Wir sind einen Moment bei den Inkas und Mayas.“ Religionsführer werden in der öffentlichen Meinungsbildung mit zugekniffenen Augen betrachtet, um die Gefühle ihrer Anhängerinnen und Anhänger nicht zu verletzen. Meienberg aber nahm eine andere Perspektive ein: Den eines Forschers, der sein Untersuchungsobjekt akribisch beobachtete. Er war seinem Gegenstand ganz nah, ohne jedoch einzugreifen. Aus seiner Subjektivität entstand ein sinnstiftender Erkenntnisgewinn.