von Dino Pozzi —
«Wintermärchen» erzählt die Geschichte einer Frau und zweier Männer, die ihre eingestandene und nicht eingestandene Sexualität in krankhafter Weise leben und eine Blutspur ziehen, indem sie im öffentlichen Raum ihnen nicht bekannte ausländische Menschen morden (vgl. Kritik von Silvia Posavec). Regisseur Jan Bonny zeigt sich besorgt über den Rechtsextremismus in Deutschland. In Locarno stand er der Presse Rede und Antwort.
«Es ist kein Film über die NSU», gibt «Wintermärchen»-Regisseur Jan Bonny gleich zu Beginn der Pressekonferenz in Locarno zu verstehen. Dass der Prozess, der den Mitgliedern der deutschen Neonazi-Zelle gemacht wurde, als Anstoss für seinen neuen Film gedient habe, räumt er im nächsten Satz dann allerdings doch ein. Wie auch Fatih Akin für «Aus dem Nichts» hat Bonny zur Vorbereitung auf seinen Film einige der Anhörungen besucht und sich daraufhin gefragt, wie man rechtsradikale Gewalt im deutschen Film auf eine andere Art darstellen könnte. «Nicht didaktisch», wie er im Tessin erklärte.
Man wolle es dem Zuschauer nicht zu einfach machen. Deswegen beginne sein Film auch als eigentliches Beziehungsdrama, welches die politische Orientierung seiner Protagonisten nicht sofort offenlegt. «Nicht sofort» darf hier wörtlich aufgefasst werden, denn im Film ist kaum die erste Viertelstunde verstrichen, als die Neo-Nazis schon im Schleichtempo durch die Strassen einer deutschen Stadt fahren und sich potenzielle Opfer aussuchen, die nur eines verbindet – die Tatsache, dass sie allesamt nicht weiss sind.
Bonny, der sich bisher mit dem Achtungserfolg «Gebenüber» (2007) und als Werbefilmer hervorgetan hat, will das Publikum mit seinem Drama in ein Dilemma führen: «Im Grunde ist der Film ein Beziehungsdrama. Damit können wir uns alle identifizieren. Wenn man auf diese Art mit den Figuren vertraut gemacht wird, begleitet man sie danach auch weiter – bis hin zu den Gewaltverbrechen.» So soll das Publikum durch das Erleben der Drastik des Dramas die Drastik der politischen Lage sehen. Der Film musste, da das politische Klima den Stoff aktuell macht, schnell ins Kino. Produzentin Bettina Brokemper: «Wir verspürten einen regelrechten Drang. Im Oktober stand die Idee für den Film, im Januar haben wir mit den Dreharbeiten begonnen, und fertiggestellt wurde er wenige Tage vor Beginn des Festivals. Der Film musste jetzt gemacht werden, um Leute zu erreichen.»
Als Inspiration für seinen Titel diente nicht nur Heinrich Heines satirisches Werk «Deutschland. Ein Wintermärchen», sondern auch die Fussball-Weltmeisterschaft, die vor zwölf Jahren in Deutschland durchgeführt und in der Folge oft als «Sommermärchen» bezeichnet wurde, sagen Bonny und Brokemper. «Wir persönlichen haben uns sehr über die unglaubliche Anzahl an deutschen Flaggen genervt – nicht nur während Weltmeisterschaften. In Deutschland ist das relativ neu und ich finde das immer noch ziemlich beunruhigend», so Bonny. Seine Produzentin ergänzt: «Mit dem Sommermärchen 2006 wurde eine neue Art von Nationalismus akzeptabel in Deutschland. Der Film ist ein Statement zu diesem Trend in unserer Gesellschaft.» Wie diese Entwicklung überhaupt stattfinden konnte – darauf liefert Bonnys Film allerdings keine Antworten. Was Menschen – jenseits der Probleme mit der Selbstachtung und des Respekts für andere, die seine Protagonisten allerdings in hohem Mass aufweisen – ins rechtsradikale Milieu getrieben hat, bleibt Spekulation.
Zu den erinnerungswürdigsten Momenten in Bonnys Film gehört eine Szene, in der das Neonazi-Trio sein erstes Gewaltverbrechen in einem türkischen Restaurant feiert und nach ein paar Bier und Schnaps seine menschenverachtenden Ansichten mit den anderen Gästen teilt und von manchen davon sogar deren Zustimmung erhält. «Die Restaurantszene wäre nicht glaubwürdig gewesen vor fünf Jahren. Es wäre unvorstellbar gewesen, dass jemand lauthals rassistische Äusserungen aussprechen und damit auch noch Lacher und Zustimmung ernten kann», teilt Bonny gegen Ende der Konferenz der internationalen Presse mit. Man würde es ihm gerne glauben.
Der vorliegende Text entstand im Kontext der Locarno Critics Academy.