Von Michelle Akanji – Das Foto des leblosen Jungen am Strand ging im September 2015 um die Welt. Aylan Kurdi, dreijährig, ein Opfer des Flüchtlingsdramas im Mittelmeer. Er war mit seiner Familie unterwegs in eine Welt ohne Krieg und fand den Tod. Nicht nur er, auch sein Bruder und seine Mutter ertranken, nachdem das überfüllte Boot kenterte – einzig der Vater überlebte die gefährliche Überfahrt. Aylans Schicksal ist eines von vielen, aber auf dem Bild, das die Welt schockierte, ist er ganz allein. Das Bild wurde tausendfach in den Sozialen Medien geteilt, worauf sich ein Grossteil der Massenmedien in Europa für eine Veröffentlichung auf der Frontseite entschied. Die Relevanz des Bildes für die Öffentlichkeit stand in diesem Moment über der Würde des Toten, denn die Welt sollte die Wahrheit sehen. Damit wurde nicht nur die Diskussion rund um die Flüchtlingskrise erneut entfacht, sondern auch jene um die Macht und der Wichtigkeit der Fotografie im Journalismus. Es sind die Bilder in den Medien, an die wir uns erinnern. Und im Zeitalter der Massenmedien ist der Journalismus und nicht mehr die Kunst die entscheidende Institution, aus der solche Bilder hervorgehen. Durch deren Selektion sind Journalisten massgebend an der Bedeutungskonstruktion dieser Bilder beteiligt und leiten somit auch den öffentlichen politischen Diskurs und das Themenrepertoire der Gesellschaft.
Ende 2015 griff der Schweizer Kriegsreporter Kurt Pelda in der Weltwoche die Geschichte rund um das von ihm betitelte «Bild des Jahres» nochmals auf: Ein junger Barmann soll laut einem Interview mit der Daily Mail den leblosen Jungen aus dem Meer gezogen haben. Seine Angaben stimmen allerdings nicht mit denjenigen der Fotografin Nilüfer Demir überein, worauf Pelda die Zweifel an der Echtheit des Bildes thematisiert und kurzerhand sein eigenes Rechercheteam losschickt. Leider erfolglos. Ob die «Fotoikone» manipuliert wurde ist unklar, und für Kurt Pelda bleibt es eine Geschichte mit Spuren, die im Sand verlaufen.
Was ist eine Fotoikone?
Übrig bleibt Unbehagen: Peldas Artikel vermittelt ein Gefühl der Aussichtlosigkeit, alles bleibt in der Schwebe. Mit dem offenen Ende der Geschichte des toten Jungen am Strand drängt sich auch die Frage auf, ob das Bild des Jahres wirklich eine Fotoikone ist. Der Kommunikationswissenschaftler David D. Perlmutter definiert in Photojournalism and foreign policy die Augenblicklichkeit der Wirkung – das Foto wird schnell berühmt und noch nach Jahren publiziert – als Voraussetzung für eine Medienikone. Ist diese bei Nilüfer Demirs Fotografie gegeben? Eine Medienikone macht, schreibt, ist Geschichte. Der Ausgang der Syrienkrise ist ungewiss, das Foto von Aylan hat auf politischer Ebene wenig bewirkt – wie lange hält es sich noch im kollektiven Gedächtnis? Nicht jedes Bild, das aufwühlt, ist eine Fotoikone.
Die Fotografie ist das stärkste Medium, um eine Tragödie festzuhalten. Sie besitze die Fähigkeit, Katastrophen zu vermenschlichen, ihnen ein Gesicht zu geben, sagt der Kunsthistoriker Felix Hoffmann. Damit eine Fotografie zur Ikone der Geschichte wird, muss sie auch ausserhalb der Massenmedien rezipiert werden, beispielsweise in der Werbung oder in der Kunst. Und sie muss über ihre Tagesaktualität hinaus ins Bewusstsein der Gesellschaft rücken. Eine wohl unbestrittene Fotoikone ist das Napalm-Mädchen Kim Phuc im Vietnamkrieg, das schreiend aus den Flammen rennt. Der Bildausschnitt, der, wie man mittlerweile weiss, nur einen Teil der Realität abbildete, rüttelte damals die Gesellschaft über den sinnlosen Krieg auf. Fotoikonen sind symbolische Verdichtungen des politischen Diskurses. Nach der Veröffentlichung in den amerikanischen Medien wurde das Napalm-Mädchen schnell zu einem globalen Symbol, das, teilweise völlig aus dem Zusammenhang gerissen, tausendfach reproduziert wurde – auf Plakaten für Wahl-Kampagnen, T-Shirts und Teetassen. Kennzeichnend für Bildikonen ist, dass sie eine Wende markieren. Es lässt sich eine Erzählstruktur herauslesen, in der sich das Bild fast immer kurz vor dem Eklat, dem Sieg, der Tragödie positioniert. So auch bei Kim Phuc. Im kollektiven Gedächtnis gehört das Bild zum bitteren Ende eines sinnlosen Krieges.
Zwei Bilder – Zwei Welten
Wie damals Nick Út, der für sein Werk 1972 den Pulitzerpreis gewann, bildet Nilüfer Demir mit ihrem Foto ein Einzelschicksal ab. Doch in der Bildsprache unterscheiden sich die beiden Fotos stark: In der anhaltenden Bilderflut, die fortan Welle um Welle von Flüchtlingen zeigt, wirkt das minimalistische Bild vom «schlafenden» Aylan konträr: so klar und eindeutig, so ruhig und passiv. Es spiegelt die Lähmung der westlichen Gesellschaft in einem Konflikt, der unlösbar scheint. Das Napalm-Mädchen erscheint ganz anders: Seine Mimik, Gestik und Körperhaltung scheint von einem Affekt geprägt, der ein existenzielles Gefühl zum Ausdruck bringt. Der Körper des Mädchens teilt sich dem Betrachter aktiv mit, er schreit nach Handlung, nach dem Schuldigen, den USA.
Durch den Medienwandel steht die Öffentlichkeit heute in einem anderen Verhältnis zu Bildern. 1972 fiel der Startschuss der «Live»-Berichterstattung im Fernsehen, unter dem Titel «War is coming home» konnte der Bürger zum ersten Mal einen Krieg vom Wohnzimmer aus verfolgen. Trotzdem konnten Journalisten keineswegs frei über den Krieg berichten und bis zum Irakkrieg wurden die sogenannten «embedded journalists» strategisch von militärischen Einheiten an bestimmte Plätze der Kriegsszenen platziert. Entsprechend eingeschränkt waren die Perspektiven auf die Geschehnisse. Ein so schockierendes, emotionales, nahes Bild wie jenes vom Napalm-Mädchen mit all seinen ikonisierenden Attributen brannte sich also schnell in die Köpfe der Zeitungsleser ein. Auch wenn niemand mehr so genau weiss, wann er das Foto zum ersten Mal gesehen hat, wurde genau dieses Vietnam-Bild Teil des kollektiven Bildgedächtnisses.
Die singuläre Ikone gibt es (fast) nicht mehr
Durch die Möglichkeiten des Internets und der Handykamera gibt es heute viele professionelle und unprofessionelle Fotojournalisten vor Ort. Und deshalb sehen wir meistens nicht nur ein einziges, sondern viele Bilder eines Ereignisses. Daher wird auch nicht immer genau dasselbe Bild veröffentlicht – vielmehr sehen wir viele Bilder mit demselben Motiv. Die singuläre Ikone gibt es (fast) nicht mehr. Wie könnten Kurt Pelda und andere heute überhaupt über eine mögliche Manipulation des Bildes vom toten Jungen diskutieren, wenn nicht auch in einem anderen Moment ein ähnliches Bild gemacht worden wäre?
Das Bild von Aylan dient im Vergleich zu historischen Ikonen nicht als Momentaufnahme zur Erinnerung an ein besonderes historisches Ereignis – es löste als mediales Ereignis kollektive Betroffenheit aus. Und für eine kurze Zeit – bis zum Anschlag im November 2015 in Paris – hatte die ganze Welt Sympathie mit den Syrern. Doch was war zuerst, das Ikonenhafte am Bild oder die Betroffenheit? Suchte die globale Medienöffentlichkeit nicht auch ein Schlüsselbild, einen Stellvertreter für alle Bilder, die wir täglich sehen könnten, aber nicht mehr sehen wollen? Bilder von lasergesteuerten Drohnen sind heute kaum mehr von denjenigen in Videospielen zu unterscheiden. In der Bilderflut wird das kollektive Bildgedächtnis überstrapaziert, die klassische Fotoikone scheint nicht mehr am Platz.
Journalisten sind auch Akteure, Leser sind auch Menschen
Kurt Pelda schreibt im Dezember 2015, dass die Unklarheit darüber, ob Aylans Leiche bewegt wurde oder nicht, für die Bewältigung der Syrienkrise völlig gleichgültig sei. Politisch mag dies zutreffen, gesellschaftlich nicht ganz. Gezeigt wird nicht nur ein Bild vom Krieg, sondern auch das Verhältnis des Fotografen zum Fotografierten, der Medienvertreterin zum Opfer, des Subjekts zum Objekt. Und der Leser sieht immer nur eine von vielen Wirklichkeiten oder gar nur deren Konstruktion. Nilüfer Demir sagte, sie wolle die Welt mit ihren Bildern aufrütteln. Auch Pelda tut dies immer wieder: Er begleitet Ende 2015 eine syrische Familie auf der Flucht bis ins Empfangszentrum in Kreuzlingen. Unterwegs hilft er den Flüchtlingen, organisiert Hotelzimmer, motiviert sie, nicht mit Schleppern mitzugehen. Dass die Familie wohlauf in der Schweiz ankommt, hat sie zu einem Grossteil dem Reporter zu verdanken. Die Rolle des Journalisten in solchen Extremsituationen ist diejenige eines Gratwanderers: Ein neutraler Betrachter zu bleiben scheint unmöglich, ein Eingreifen in die Situation kann den Verlauf einer Geschichte komplett verändern. Was wir über den Syrienkonflikt wissen, wissen wir grösstenteils über die Medien. Die Bilder, die wir sehen, sind nicht zufällig eingefangene Momente, sondern Produkte von Entscheidungen.
In Zeiten, in denen sich Jugendliche so kritisch von klassischen Massenmedien distanzieren, weil sie nicht mehr wissen, was sie glauben sollen und in denen der Infojournalismus immer mehr unter 30-Jährige Leserinnen und Leser verliert, ist es wichtig, die richtige Geschichte zu erzählen. Dies tut Heike Faller im Zeit Magazin vom 28. Januar. Mit dem Foto von Aylan als Ausgangspunkt erzählt sie die Geschichte seiner Familie, die mit den Folgen des Todes ihrer Neffen, Brüder und Söhne leben muss – aber auch mit der Internetdebatte, die das Bild ausgelöst hat. Es ist eine unaufgeregte Bestandesaufnahme – ein Ausschnitt aus einer Geschichte, die noch lange nicht zu Ende geschrieben ist.
Michelle Akanji studiert im Master Kulturpublizistik.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.