Von Aline Diggelmann –
Erwin Koch als Podiumsgast beim Reporterforum 2016? Grund genug, sich an einem spätsommerlichen Freitagmorgen ins Volkshaus Zürich zu begeben. Daneben gab es auch etliche andere spannende und informative Programmpunkte. So viele, dass man sich am liebsten permanent in zwei Sälen hätte aufhalten wollen. Aber das Podiumsgespräch mit Erwin Koch «Mein Text, mein Ton – wie ich schreibe» war mein Fixstern im Programmheft. Und das galt offenbar auch für einige andere, wie ich den vollen Sitzreihen und dem Programmbeschrieb entnahm: «…Vorbild von Generationen junger Journalisten». Da kommt man sich schon etwas mainstream vor. Aber lässt man die Eitelkeit ausser Acht, bleibt nur noch die Faszination. Die Faszination für einen Autor und einen Schreibstil, der journalistische Konventionen bricht, zielsicher vermittelt, faktengetreu berichtet und gleichzeitig zu Tränen rührt.*
Von dieser (meiner) Sentimentalität ist denn auch Naivität nicht weit entfernt. So erhoffte ich mir von dem Podium eine Erkenntnis, oder viel eher eine Erklärung und Analyse von Erwin Kochs Stil. Antworten auf Fragen wie: Ist Stil lernbar? Womit erzeugt Erwin Koch auf Textebene die Intensität seiner Geschichten? Wie setzt man Zahlen als Rhythmuswechsel so ein, dass ein Text mit der Kraft eines Koch-Textes entsteht?
Das Podium blieb mir – und Generationen junger Journalist/innen – die meisten Antworten schuldig. Es wurde kaum inhaltlich oder sprachstilistisch über seine Texte diskutiert. Erwin Koch überrascht viel eher mit journalistischer Bescheidenheit und vielleicht sogar ein bisschen Desinteresse am journalistischen Dasein. Schreiben sei für ihn eine Qual. Auftragsarbeiten ohne klaren Fokus ebenso. Und wie er von sich selber sagt «Ich bin ganz schlecht in Theorie, eigentlich kann ich nur über Dinge reden, die konkret sind, also übers Handwerk.» Und das tat er denn auch, übers Recherche-Handwerk reden anstatt über Stil. Und da Erwin Koch nicht gerne schreibt, erstaunt es denn auch nicht mehr, dass sein hauptsächliches Interesse der Recherche und der Methodik galt.
Es waren handwerkliche Dinge wie die folgenden, die Erwin Koch einer Generation von jungen Journalist/innen mit auf den Weg gab:
- Themensuche/ Interviews und Recherche
Zuerst gilt es, Protagonist/innen ausfindig zu machen, die sich aus einer Problematik ergeben, beziehungsweise Einzelschicksale zu finden, die repräsentativ für ein bestimmtes gesellschaftliches Phänomen stehen. Vor Interviewterminen wird ein Fragebogen mit über hundert Fragen zusammengestellt und den Interviewpartner/innen vorab zugestellt – einerseits können sich die betreffenden Personen entsprechend vorbereiten, andererseits ist so sichergestellt, dass alle Details und Hintergründe in Erfahrung gebracht werden, die der Dramaturgie und Geschichte dienlich sein könnten.
Erst danach wird ein Interviewtermin vereinbart. Gespräche sollten wenn möglich auf Tonspur aufgenommen werden, damit die Intensität und Nähe des Gesprächs nicht durch Notizenschreiben gestört wird. Der/die Journalist/in sollte vorher schon eine Idee davon haben, was er/sie in Erfahrung bringen und erzählen will. Trotzdem sollte man offen bleiben für neue, unerwartete Wendungen und die Leute immer ausreden und assoziieren lassen. Im besten Fall werden zwei bis drei Treffen mit den (Haupt-)Protagonist/innen vereinbart, damit man sich schrittweise zum Kern der Dramaturgie vorarbeiten und Anschlussfragen stellen kann.
- Methodik
Der gesammelte Stoff muss systematisch geordnet werden. Erwin Koch pflegt ein Stichwortverzeichnis zu führen, das ihm hilft, sich in den Unmengen von Recherchematerial zu orientieren. Letztendlich finden nur 20 bis 30 Prozent der in Erfahrung gebrachten Informationen Verwendung. Welche Situationen und Informationen dem Lauf der Geschichte dienlich sind, sollte vor dem Schreiben klar sein. Wie ein Thema erzählt werden soll, hängt stark vom jeweiligen Thema und dem Umfeld ab. (Zum Beispiel brauchen Auslandreportagen mehr soziokulturelle Erklärung, wohingegen je nach Thema mehr oder weniger Protagonist/innen erforderlich sind.)
- Schreibprozess
Je nach Thema macht eine chronologische oder personenbezogene Erzählweise Sinn. Um Atmosphäre und Nähe zu schaffen, soll man Figuren «auftreten lassen» – Wie ist der Raum? Wie ist das Licht? Wie ist die Stimme der Person, ihr Gang, ihre Kleidung? Es braucht keine ganzen Lebensgeschichten, um die Leser/innen in die Lage zu bringen, sich mit einer Figur verbunden zu fühlen. Nähe zum Text entsteht durch die Nähe zur Situation. Wo plastische Begebenheiten nicht bekannt sind, können auch Annahmen getroffen werden – Wie war es genau? Wie wurde es gesagt?** Wichtig für die Atmosphäre eines Textes ist auch, dass zuweilen Situationen direkt wiedergegeben werden («Er streichelte damals ihren schwangeren Bauch» anstatt «Er erzählt, wie er damals ihren schwangeren Bauch streichelte»).
* An dieser Stelle die Leseempfehlung «Sarah – Eigentlich eine Liebesgeschichte».
** Kleiner Hinweis für die Generationen junger Journalist/innen: besprecht mit euren Dozent/innen und Redaktionskolleg/innen, inwiefern sich journalistische Faktentreue mit freien Annahmen des Autors/der Autorin vereinbaren lässt!
Aline Diggelmann studiert im Master Kulturpublizistik.