Von Philipp Spillmann –
Wie schreibt man eine Reportage über ein Ereignis, von dem man bis heute nicht weiss, was sich wirklich zugetragen hat? Die Neue Zürcher Zeitung wagte einen Versuch, für den sie 2015 den deutschen Reporterpreis erhielt.
«Good Night, Malaysian 370» waren die letzten Worte des Flugkapitäns, die von der Bodenstation aufgezeichnet wurden. Es war der 8. März 2014, 01:19 Uhr. Knapp vierzig Minuten zuvor war die Boeing 777 mit der Flugnummer MH370 in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur gestartet. Noch gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. Die Maschine war auf dem Weg nach Peking, wo sie um 06:30 Uhr hätte landen sollen. Aber nur wenige Minuten nach der Durchsage des Piloten drehte das Flugzeug scharf nach Westen ab. Um 02:22 Uhr wurde es von einem Militärradar südlich der Insel Phuket registriert. Danach war es weg. Als die Angehörigen der 227 Passagiere frühmorgens an das Terminal kamen, stand auf der Anzeigetafel «Delayed» – verspätet. Bis heute weiss niemand, was mit dem Flugzeug geschehen ist.
Seit dem 29. Januar 2015 gilt die Maschine offiziell als verunglückt. Es gibt zahlreiche Theorien, was mit ihr passiert sein könnte. Keine ist lückenlos. Von offizieller Seite werden die meisten zurückgewiesen. Am 29. Juli 2015 wurde auf der französischen Insel La Réunion ein Wrackteil angespült, das später als Teil der MH370 identifiziert wurde. Was an Bord geschah, warum das Flugzeug den Kurs änderte, wo genau und warum es abstürzte, ist nach wie vor ungeklärt. Nach weiteren Trümmerteilen wird bis heute gesucht. Wer immer eine Geschichte über diesen Vorfall schreiben will, hat kaum Fakten, auf denen sich aufbauen lässt. Was geschehen ist und was geschehen sein könnte, verschwimmt.
Umso beeindruckender ist die Web-Reportage zu dem rätselhaften Verschwinden, welche die Neue Zürcher Zeitung anfangs März 2015 veröffentlichte und für die sie Ende desselben Jahres den deutschen Reporterpreis für Web-Reportagen erhielt. Die Online-Publikation erschien etwa einen Monat nachdem das Flugzeug offiziell als verunglückt erklärt wurde und knapp fünf Monate vor dem Auffinden des Wrackteils. So liest sich die Reportage gleichzeitig als Geschichte wie auch als Dokument der Spurensuche. Sie schildert das Verschwinden des Flugzeuges, die Suche nach Antworten und stellt die plausibelsten Theorien zur Diskussion. Das Besondere: Es kommen kaum Personen zu Wort, die direkt an den Ereignissen beteiligt waren. Der Autor Fabian Biasio schrieb dazu: «Am Anfang stand eine einsame Reise nach Malaysia, viele Widerstände und ein für mich praktisch unlösbares Problem: Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, eine Spurensuche zu einem der grössten Rätsel der modernen Luftfahrt zu realisieren. Die zahlreichen Versuche, Angehörige der Passagiere von Flug MH370 zu kontaktieren, scheiterten allesamt – bis ich eine Nachricht der Hauptprotagonistin, Sarah Bajc, in meiner Mailbox vorfand.»
Der Umstand, dass statt malaysischen Flugbehörden und Betroffenen ein Schweizer Experte und nur eine einzige Angehörige im Zentrum der Geschichte stehen, ist demnach zwar äusseren Umständen geschuldet, hat aber bewirkt, dass in der Reportage das Unheimliche, Anonyme und Merkwürdige des Falles stärker heraustritt. Das Fehlen von Informationen ist somit nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Perspektive des Erzählens eingeschrieben. Die Reportage kommt ebensowenig an ein klares Bild der Beteiligten heran, wie diese an das Gesamtbild des Falles. Permanent rückt sie ins Licht, dass fast alles im Dunkeln liegt, und was alles fehlt, damit sich ein vollständiges Bild ergeben könnte. Es ist die Geschichte eines Ereignisses, das seine Geschichte verloren hat.
Hier geht es zur Web-Reportage der NZZ
Hier gibt es Hintergrundinfos zum Text
Philipp Spillmann studiert im Master Kulturpublizistik.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.