von Silvia Posavec —
Am einen Ende der Welt flüchtet eine Frau dank eines neuen Jobs aus ihrem alten Leben; am anderen Ende entflieht ein Mann der Nachtarbeit und fährt in den Tag. Die beiden Filme Temporada und Closing Time sind ganz unterschiedlich, sie greifen jedoch beide ein globales Phänomen auf. Temporada, der Spielfilm des Nachwuchsregisseurs André Novais Oliveira aus Brasilien, und der Dokumentarfilm Closing Time der Schweizerin Nicole Vögele, der in Taipeh entstanden ist, greifen verwandte Narrative auf: ob fiktiv und real, zwischen Arbeit und Alltag findet eine Ermächtigung durch Flucht statt.Wir lernen die Protagonist_innen in den Filmen über ihre Arbeit kennen. In Momenten, in denen die Handlungen und Wege durch den Job vorgegeben sind, lassen sich Eindrücke einfangen, die die Figuren, egal ob real oder nicht, zu sich selbst führen. Sie lassen den seelischen «Ist-Zustand» sichtbar werden. Temporada erzählt auf einfache Art, unmittelbar und linear, die Geschichte von Juliana (Grace Passô), einer Frau Mitte dreissig, die von der Kleinstadt Itaúna nach Contagem, eine 600 000-Einwohner-Stadt im Süden Brasiliens, zieht. Sie fängt einen neuen Job bei der Dengue-Fieber-Prävention an. Als Teil einer vierköpfigen Einsatzgruppe ist sie fortan von Haus zu Haus unterwegs, um Laichplätze von Stechmücken auszumerzen. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Juliana auf sich allein gestellt. Vor allem, nachdem sich die Beziehung zu ihrem Mann als zerrüttet herausstellt und die Trennung auf Zeit eine endgültige zu werden scheint. Letztlich ist es der Job, der Juliana eine Flucht nach vorne abverlangt. Im Alltag lernt sie aus sich herauszukommen, findet neue Freunde unter ihren Arbeitskollegen und ein Stück weit auch zu ihrer afro-brasilianischen Identität.
Spielfilme lassen es zu, Figuren sehr ausführlich zu porträtieren, sodass Julianas Gefühlsleben anders als in einem Dokumentarfilm herausgearbeitet werden kann. Die Kamera ist immer nah dran und lässt dem Schauspiel Zeit, um Emotionen aufzufächern. Oliveira zeigt seine Hauptdarstellerin bei der Arbeit und nutzt den sie umgebenden Raum, um in Alltagssituationen Sinnbilder zu erschaffen. Manche sind etwas zu offensichtlich, etwa wenn Juliana bei einem Hausbesuch ihre Höhenangst überwinden muss, um auf ein Hausdach zu klettern, und sie danach in einem Gespräch mit dem Hausbesitzer den neuen und ungewohnten Blick über die Nachbarschaft reflektiert. Sie nimmt eine neue Perspektive ein und schöpft voller Bescheidenheit Mut für die Zukunft. Andere Situationen sind subtiler gestaltet, so wie die Tätigkeit, die ihr auf den Leib geschrieben wurde: Wir schauen Juliana dabei zu, wie sie in den Hinterhöfen von anderen Menschen aufräumt und gleichzeitig innerlich ihr eigenes Leben bereinigt.
Nicole Vögele entwickelt ihre Geschichte an einem Ort in Taipeh. Closing Time begleitet den Imbissbesitzer Mr. Kuo und seine Frau, die ihren Laden ausschliesslich in der Nacht betreiben. Durch die monatelange Beobachtung schält sich heraus, dass die Nachtdienstleister sich gegenseitig Kundschaft sind. Es sind immer die gleichen Personen, die in dem kleinen Imbiss essen. Die Nachtarbeit wird in Vögeles Essayfilm als nicht enden wollender, zermürbender Kreislauf dargestellt, ein Prozess ohne Anfang und Ende. Vögele übt sich in Geduld, die Kamera agiert nie, beobachtet nur. So kommt es vor, dass ihre Protagonist_innen auch einmal aus dem Bild laufen. Trotzdem wirken die Kameraeinstellungen nie zufällig. Dank der Zurückhaltung der Kamera gelingt es, sehr nahe an die Figuren heranzukommen, streckenweise wirken die Aufnahmen wie die einer Web-Kamera. Es scheint, als fühle sich Mr. Kuo beim Karottenschälen in seiner bescheidenen Küche unbeobachtet. Er versinkt dabei in Kontemplation, während die Zigarette in seinem Mundwinkel langsam abbrennt. In einem anderen Moment schlägt der Koch so schnell wie eine Maschine Eier auf. Eins nach dem anderen fällt in die Schale und wird zu einer einzigen zähflüssigen Masse verbunden – so wie die Nächte wie ineinander verwoben im Film vorüberziehen. Der Film zeigt eine pausenlose Routine, die auffällig oft ins Leere läuft. Routine als Selbstzweck. Vögele findet weitere Bilder, die diese Wirkung verstärken: Ein Ventilator surrt stur vor sich hin, ohne jemandem einen Dienst zu leisten. Dieser dokumentarische Blick nimmt sich zurück, emotionalisiert nicht, sondern arbeitet mit Bildern und Analogien. Und er verlangt dem Zuschauer eine andere Sensibilität für die Figuren ab, da es ihnen verwehrt bleibt, sich selbst direkt in die Kamera zu äussern.
In beiden Filmen fungieren die im Zusammenhang mit Arbeit entstandenen Sinnbilder als Vorboten. Sie kündigen jeweils bevorstehende Veränderungen an und zeigen auch die Konfrontation der Figuren mit sich selbst, die nötig ist, um überhaupt eine Entwicklung in Gang zu setzten.Die Bilder der aufgeschlagenen Eier wiederholen sich. Während zu Beginn des Films der Karton gezeigt wird, aus dem die Eier entnommen werden, zeigt die zweite, viel dynamischere Aufnahme Mr. Kuos Hände, die gekonnt die Eier teilen. Das Erzähltempo steigt, der Weg vom Karton zum zerbrochenen Ei ist bekannt, allzu bekannt. Zunehmend wird Müdigkeit spürbar, sichtbar und hörbar. Bevor Mr. Kuo aus seiner Welt ausreissen kann, verdichten sich Bilder und Geräusche, und der Ton wird zu einer selbstständigen organisch wirkenden Erzählinstanz. Während sich auf der Bildebene die Routine scheinbar fortgesetzt, ertönt ein tiefes Schnarchen. Erst diese filmische Transgression macht die Flucht von Mr. Kuo zu einem dringlichen Akt. Sein Ausbruch aus der Routine wird filmisch initiiert: Auf dem Rückweg von einer Einkaufstour nimmt Mr. Kuo mit seinem Mofa eine andere Ausfahrt. Er fährt aus der Stadt aufs Land, sein Ziel ist der Tag. Wir begleiten den Koch in die Natur, durch einen Sturm und durch gleissende Sonne. Wohin seine Flucht führt, bleibt offen. Es scheint relevanter zu sein, dass sie gelungen ist. Am Abend wird Mr. Kuo zu Bett gehen, und wir wissen, dass sein Imbiss für diese Nacht geschlossen bleibt.
Auch Temporada beschreibt eine Wandlung. Und trotzdem verlangt auch der Spielfilm nach einer versöhnlichen Katharsis der Hauptfigur. Juliana hat im Verlauf des Films wichtige Schritte in ein neues Leben gemacht. Ihre innere Transformation schlägt sich sichtbar nieder, etwa in einer neuen Frisur. Doch eine endgültige Geste muss der Verwandlung ein Ende setzen. Oliveira greift dazu das Motiv der Insekten in den Hinterhöfen wieder auf. Ihnen wird radikal der Garaus gemacht und somit auch symbolisch Julianas Vergangenheit. Grossflächig wird filmisch sehr ansprechend weisses Insektenvernichtungspulver versprüht. Ein Mann in einem Schutzanzug streift langsam durch einen Hinterhof, in der nächsten Einstellung fährt ein Motorrad durch menschenleere Strassen, hinter ihm eine weisse Wolke. Juliana entflieht dem Spektakel mit ihren neuen Freuden in die Natur. Auf dem Rückweg will das Auto, mit dem sie gekommen sind, nicht anspringen. Juliana setzt sich ans Steuer, während die anderen das Fahrzeug anschieben. Nach einigen Metern springt der Motor an. Juliana fährt, lacht und schaut kurz zurück zu ihren Freunden über den Rückspiegel. Dank ihnen ist sie nicht aufzuhalten, sie geben ihr den letzten Anstoss, in ein neues Leben.
Die beiden Filme entführen uns in ferne und fremd wirkende Arbeitswelten. Doch sollten die Bilder der darin gezeigten bescheidenen Lebensverhältnisse nicht den Blick auf die ihnen zugrunde liegen Phänomene verstellen: Julianas und Mr. Kuos Herausforderungen verweisen auf generelle Probleme der globalen Arbeitswelt. Sie sind zwei extreme Pole, zwischen denen wir uns in Gratwanderungen üben. Auf der einen Seite geht es um die Emanzipation durch Arbeit, die Chance durch sie einen festen Platz in der Gesellschaft zu finden. Auf der anderen Seite besteht Gefahr von Abhängigkeit, die vollkommene Vereinnahmung des Menschen in einer postkapitalistischen Leistungsgesellschaft.
Silvia Posavec studiert im Master Kulturpublizistik. Der vorliegende Text entstand im Kontext der Locarno Critics Academy und des Netzwerks Filmpublizistik. Er erschien erstmals am 29. August 2018 im Filmbulletin.