Von Sophie Grossmann
Wo Ratingsysteme den Kritiker ersetzen, fehlt vor allem eines: Transparenz. Wieso fundierte Kritik auch in Zeiten des Medienwandels hoch im Kurs steht.
Die Rolle des Kritikers ist in Zeiten des Informationsüberflusses eine umstrittene. Die Printmedien, traditionelle Outlets von Kulturkritikern, stecken in einer Krise. Ausbleibende Werbeeinnahmen führen zu Verlusten thematischer Vielfalt im Medium wie auch tendenziell zur Abnahme von Multiperspektivität innerhalb eines einzelnen Artikels. Somit sind die bisherigen Legitimationsargumente für den Kulturkritiker in der Zeitung, etwa eine fachlich fundierte Auseinandersetzung mit den Künsten, dem heutigen Bedürfnis nach schneller Information konträr gegenüber gestellt.
Koryphäen der Kritik in der Art eines Roger Ebert, eines Fritz J. Raddatz oder einer Michiko Kakutani ragen wie Leuchttürme aus einem Meer von Rezensionen und Autoren. Sie weisen den Weg, werfen Licht auf Hintergrund und Unbeachtetes. Sie bleiben stets standhaft in ihrem Glauben an die Wirkungskraft von Film, Literatur und Musik. Derartige Kritiker billigen auch nicht gelungenen Werken eine schöpferische Einzigartigkeit zu. Ebert würdigte alljährlich die aus seiner Sicht besten und schlechtesten Filme in zwei Büchern.
Die modernen Ratingsysteme Amazon, Rottentomatoes oder Yelp prägen hingegen eine Kritik ohne Argumentationspflicht. Dabei bleibt ungeklärt, ob die quantitativ funktionierende Bewertung eines Werkes auch eine Begründbarkeit in sich birgt. Roger Ebert’s Kritiken stimmen in ihrem Urteil in 77% mit den Ratings von Rottentomatoes, der grössten Filmplattform für Rezensionen überein (Quelle: Rottentomatoes). Der sogenannte Tomatoemeter bildet dabei den Durchschnittswert ab. Bleibt der Wert unter 59 Prozent, wird der Film als verrottet oder scheusslich gekennzeichnet. Solche Kategorisierungen findet man in Kritiken traditioneller Art kaum mehr. Ebenfalls in diese Richtung argumentierend, meint Mercedes Bunz im Aufsatz Was ist Kritik im Zeitalter der Digitalisierung, dass der Typus „beissender Kritiker“ heute systemfremd geworden ist. Kritik, führt Bunz aus, ist jedoch in ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht ausschliesslich die Bemängelung, sondern eben auch die Würdigung und das Herausarbeiten von Stärken eines Werkes.
Simple numerische Angaben wie etwa 3 von 5 Sternen oder 60 von 100 Prozent bieten sich zwar für eine rasche Entscheidungsfindung des Konsumenten an, ihnen fehlt aber die nuancierte Reflexion einer ausführlichen Kritik in Textform. Ferner können hier die vielfältigen negativen Beeinflussungen auf die Rating-Systeme genannt werden: Trolls, bezahlte Ratings und das System selbst, welches eine differenziertere Bewertung gar nicht zulässt.
In jeder Kritik gibt es neben einer Argumentation auch eine emotionale Komponente. Sie ist aus dem Werk nicht ableitbar. Wenn etwa Jens-Christian Rabe, Redaktor im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, in einer Rezension der neuen Platte von Lana del Rey seine überaus starke persönliche Abneigung gegenüber Geigenmusik zum Ausdruck bringt, geht es nicht – oder nicht nur – um Sachlichkeit, sondern um eine gut reaction. Wird die Reaktion (und sachnahe Argumente) im Laufe der Kritik transparent gemacht, ermöglicht dies dem Leser mehr Möglichkeiten zur persönlichen Reflexion als die Ratingsysteme des Internets.
Zeitungen mögen heute nicht mehr Teil des alltäglichen Habitus von Medienkonsumenten sein, und ihr Konsum immer mehr als sporadische Ausnahmebeschäftigung einzelner gelten. Doch auch und gerade im stürmischen Wandel der Medien kann der Kulturkritiker als inhaltsorientierter Ankerpunkt und Kompass einen substanziellen Beitrag leisten.
Sophie Grossmann, Jahrgang 1991, hat Journalismus und Organisationskommunikation an der Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften studiert und 2014 den Master Art Education, Vertiefung Kulturpublizistik, an der Zürcher Hochschule der Künste begonnen. Sie arbeitet neben dem Studium beim Medienunternehmen VICE.