von Philipp Spillmann –
Good Luck – Viel Glück heisst der neuste Film des US-amerikanischen Künstlers Ben Russel. Er portraitiert die Lebenswelten von Minenarbeitern in Serbien und Surinam und dringt so tief in die Stollen vor, bis der Berg zu flüstern beginnt.
Magischer Realismus nennt man jene künstlerische und literarische Strömung, die für eine Verschmelzung zwischen zugänglicher und unzugänglicher, natürlicher und übernatürlicher Wirklichkeit einsteht. Entstanden im Südamerika und Europa der 1920er Jahre versucht sie die schattige Rückseite moderner Welterfahrung freizulegen. Sie vermischt aber nicht Realität mit Fiktion, sondern bemüht sich um die Annäherung an eine Realität, die durch überprüfbare Fakten allein nicht hinreichend beschrieben werden kann. Es ist ein derartiges Wirklichkeitsverständnis, aus dem sich die Dokumentarfilme des US-Amerikanischen Künstlers Ben Russel nähren.
Der zeitgenössische Kunstdiskurs verortet Russels Filme irgendwo »zwischen experimentellem Kino und spekulativer Ethnografie« (Website der Documenta). Er selbst bezeichnete sein Schaffen als »psychedelische Ethnografie«. Wie immer die Kategorisierung: Russels Filme zeichnen sich dadurch aus, dass die Wirklichkeit, die sie erscheinen lassen, nur durch ein bestimmtes, kaum greifbares, übernatürliches – eben magisches – Moment begreifen und erfahren lassen. Beispielhaft hierfür steht sein neuster Film »Good Luck«.
Von Goldwäldern und Kupferhöhlen
Der Film entstand für die Ausstellung documenta 14, an der er während 100 Tagen lief. In 143 Minuten portraitiert er die Lebenswelten von Goldschürfern und Bergbauarbeitern einer Goldmine in den Regenwäldern Surinams und einer Kupfermine in Serbien.
Auf den ersten Blick handelt es sich um Milieu-Studien. Russel portraitiert den Alltag der Minenarbeiter und studiert die Umgebung, in der sie sich bewegen. Allerdings gibt weder eine Rahmenhandlung noch einen ausformulierten Kontext. Russel geht es um’s Phänomenologische: Darum, wie es ist, dort zu sein. Was man sehen und hören, was man jenseits davon fühlen, erahnen und sich einbilden kann.
Verlust von Raum und Zeit
Mit langen Standbildern, hautnahen Close-Ups und weitschweifigen Kamerafahrten folgt Russel mit seiner 16-mm Kamera den Arbeitern durch die Minenlandschaft. Sie wandern durch blättriges Dschungeldickicht, gleiten rostrote Flussläufe hinab und verschwinden in finsteren Höhlen. Es gibt Szenen, in denen sich der Unterschied zwischen sinngemässer und unsinniger Handlung vermischt und nicht mehr klar ist, wie real das, was sich vor der Linse gerade abspielt, ist. So etwa an einer Stelle des Filmes, bei der ein einzelner Bergbauarbeiter im unendlichen Schwarz des Berges Akkordeon spielt. Oder bei einer Fahrt durch die Stollen, die nie zu enden scheint: die Zeit wird zähflüssig, der Raum bodenlos.
Russel selbst bleibt in seinem Film stets stumm und unsichtbar. Sein Blick haftet an den Arbeitern, ihren durchgeschwitzten Klamotten, ihren flackernden Taschenlampen und den vielen Handbewegungen, die sie in ihrer Arbeit ausführen. Gesprochen wird wenig. Der Ton verdichtet sich zu einer vibrierenden Geräuschkulisse, die sich wechselweise aus Maschinengetöse, Urwaldgeräuschen oder dem Echo in den Stollen zusammensetzt.
Labyrinth der Mikro-Erzählungen
Streng genommen gibt es nicht einmal eine Geschichte. Nur ein Netz verästelter Mikro-Erzählungen, die sich labyrinthartig ineinander verschachteln. Auf eine Szene, in der minutenlang eine ratternde Pumpe im roten Schlamm fixiert wird, folgt die Frontalaufnahme eines Arbeiters, die dauert, bis das Bild fast einfriert.
Verstärkt wurde dieser Effekt an der documenta 14 noch dadurch, dass Russel dort seinen Film auf vier Räume verteilte. Auf drei Leinwänden und einem Bildschirm liefen in vier grottigen Kammern des Kellergewölbes des Museum Fridericianum vier autonome Erzählstränge ab – jeweils in ihrer eigenen Endlosschlaufe. Hätte der Film einen Anfang, könnte es jene Szene sein, bei der im Morgengrauen ein Mann mit Kanister im Arm einen gewundenen Pfad entlangläuft, während sich im Hintergrund langsam der Nebel lichtet, bis er schliesslich bei einer motorisierten Pumpe endet, sie anwirft und krachendes Maschinenrumpeln das feine Hintergrundsummen des Urwalds ablöst. Oder die Szene, in welcher die Kamera mehreren Minuten lang einer Gruppe Arbeiter folgt, die in einen Aufzug steigen und für eine gefühlte Ewigkeit den Schacht hinunterbrausen. Ein möglicher Schluss könnte die Szene sein, in der auf der anderen Talseite derselben Mine eine kleine Blaskapelle zu einem melancholischen Marsch anstimmt, zu dessen Ende einer der Gilde verkündet: »Ich kann mich an alles erinnern, an meinen Geburtsort, mein Elternhaus. Das ist jetzt alles weg. Das ist jetzt in der Grube.«
Gerade weil der Film Raum und Zeit zu dehnen scheint, übt er eine unglaubliche Sogwirkung auf die Sinne aus. Das Auge befreit sich davon, weitersehen zu wollen. Es will tiefer sehen, in Trance verfallen, die Nichtflüchtigkeit des Moments auskosten. Insofern interessiert sich der Film nicht nur dafür, eine Phänomenologie der Minenwelt zu schaffen, sondern auch eine Phänomenologie des Sehens. Wir sollen nicht das sehen, was hinter den Dingen liegt, sondern was hinter dem Sehen liegt.
Philipp Spillmann studiert im Master Kulturpublizistik.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.