von Marleen Fitterer –
Wann und warum wird ein Dokumentarfilm und das darin Dargestellte zum Thema für die Strafverfolgung? Diskussion einer Grundsatzfrage anhand zweier Beispiele.
Zurechtgestutzte Hecken, leere Strassen, Hofeinfahrten, typische 60er Jahre Vorort-Häuser. Ulrich Seidls Dokumentarfilm „Im Keller“ (2014) beginnt harmlos. Die darauf folgenden Szenen, gedreht in österreichischen Kellern, sprechen eine ganz andere Sprache. Der Film handelt von „normalen“ Bürgern und deren Obsessionen, Geheimnissen und Trieben, die sie unterirdisch ausleben. Der „Ehesklave“ zum Beispiel lässt sich von seiner Frau an den Hoden aufhängen. Die Caritas-Mitarbeiterin wird von ihrem Mann ausgepeitscht. Eine korpulente Frau zwängt ihren nackten Körper in einen Metallkäfig. Ein älteres Ehepaar führt seine Jagdtrophäen vor, ein Mann seine Waffensammlung. Eine der bizarrsten Szenen zeigt Kameraden aus der Musikkappelle, die sich zum Frühschoppen im Keller treffen. An sich nichts Verwerfliches, wäre der Ort nicht über und über mit Erinnerungen an die Nazi-Zeit geschmückt: Schaufensterpuppen in SS-Uniformen, Orden, Hakenkreuzfahnen und Hitler-Portraits. Das Sammeln von faschistischen Gegenständen und deren Zurschaustellung verstösst auch in Österreich gegen das Gesetz. Gesammelt werden solche Gegenstände durch die Kameraden im Keller der Musikkapelle, zur Schau gestellt werden sie durch Seidls Film. Gegenstand dieses Essays ist demnach die Frage nach dem Dokumentarfilm als Gefäss der Strafverfolgung. Wie wird mit Straftaten in Dokumentarfilmen umgegangen?
Im Falle der Hobby-Nazis im Keller begann die Staatsanwaltschaft Eisenstadt schon vor dem Filmstart mit Ermittlungen gegen alle fünf in der Szene agierenden Personen. Kurz nach der Anklage distanzierten sich die Betroffenen von den Vorwürfen und beharrten darauf, Statisten gewesen zu sein. Sie verwiesen auf die mit der Firma Ulrich Seidls abgeschlossenen Verträge, in denen ihre Bezahlung festgehalten wurde. Seidl seinerseits widersprach vehement: Die Szene sei nicht gestellt gewesen. Sicher gäbe es Verträge, diese beinhalteten aber lediglich eine Einverständniserklärung und die Höhe der Aufwandsentschädigung. Die Geschworenen des Prozesses gegen den Besitzer des Nazi-Kellers befanden den Angeklagten als schuldig. Knapp ein Jahr nach der Veröffentlichung des Filmes wurde Josef Ochs zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Dies sei nicht seine Absicht gewesen, betonte Seidl im Interview mit der Agentur APA. Für ihn sei der Angeklagte lediglich ein Nostalgiker, kein Nazi.
Doch gibt es auch Dokumentarfilme, die zumindest indirekt genau das bezwecken: Straftaten aufklären und Schuldige vor Gericht bringen. Eines der bekanntesten Beispiele ist die HBO-Dokumentation „The Jinx – The Life and Deaths of Robert Durst“ des Filmemachers Andrew Jarecki (2015). In der Serie geht es um den US-Millionär Robert Durst, der in drei mysteriöse Todesfälle verwickelt war. Zum einen steht Durst unter Verdacht, seine erste Ehefrau, die am 31. Januar 1982 spurlos verschwand, getötet zu haben. Der Fall wurde 2000 neu aufgerollt. Im Zuge dieses Verfahrens wurde die Schriftstellerin Susan Berman, eine alte Freundin Dursts, kurz vor ihrer Anhörung zum mysteriösen Verschwinden der Ehefrau erschossen in ihrem Haus gefunden. Wiederum war Durst der Hauptverdächtige, und wiederum kam es zu keinem Schuldspruch. 2001 gestand Durst den Mord an einem Obdachlosen, der zerstückelt im Meer gefunden worden war. Er berief sich auf Notwehr und bekam drei Jahre. Im Projekt „The Jinx“ wirkte Durst mit, um seine Sicht der Dinge zu erläutern. Während des Drehs des Finales verriet er sich jedoch selbst. Nach der Szene, in der er vom Regisseur mit eindeutigen Beweisen seiner Schuld konfrontiert wurde, im Selbstgespräch auf der Toilette nach Ende der Dreharbeiten, nuschelte er in sich hinein: „Da hast du’s, sie haben dich erwischt. Was für ein Desaster! Was zum Teufel hast du getan? Hast sie alle umgebracht. Klar doch!“. Das ihm angesteckte Mikro war noch eingeschaltet und nahm alles auf. Im November 2016 wurde Durst auf Grund seines unabsichtlichen Geständnisses und weiterer Beweise der HBO-Dokumentation des Mordes an Berman angeklagt. Durst plädierte auf nicht schuldig. Die Vorverhandlung wurde auf Oktober 2017 angesetzt.
Zu den Dokumentationen, die ähnlich angelegt sind wie „The Jinx“, gehören nicht nur der Erfolgs-Radiopodcast „Serial“, in der die Autorin Sarah Koenig sich mit einem journalistischen Zugang um Aufklärung bemüht, oder die Netflix-Produktion „Making of a Murderer“; ins gleiche Genre gehört auch der TV-Dinosaurier „Aktenzeichen XY“, in der Journalisten und das Publikum als verlängerte Arme der polizeilicher Aufklärung funktionieren. Gerade im Beispiel von Seidls „Im Keller“, der eine Verurteilung Überführung von Straftätern überhaupt nicht im Auge hatte – aber auch bei „The Jinx“ mit der absichtlich-unabsichtlichen Überführung – wird deutlich, wie die Rollen und Ziele einerseits der Justiz und Polizei, anderseits des Journalismus und des Dokumentarismus (und des Publikums) zum anderen, unklarer und unberechenbarer geworden sind. Die Verantwortung von Filmern ist bei alledem nicht von der Hand zu weisen. Wirklichkeit abbilden heisst im Falle der Nazi-Keller-Beteiligten auch, in Wirklichkeit eine Straftat begehen – auch wenn Seidl das nicht so sieht. Der Dokumentarfilm hat a priori keine höhere Glaubwürdigkeit als die Justiz. Dennoch kann es im besseren Fall gelingen, dass ein Dokumentarfilm dort, wo die Justiz versagt hat, letztendlich noch für Gerechtigkeit sorgt.
Marleen Fitterer studiert im Master Kulturpublizistik.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.