von Philipp Spillmann –
Für ihr Projekt «Stranger Visions» sammelte die New Yorker Künstlerin Heather Dewey-Hagborg vor einigen Jahren DNA-Spuren im öffentlichen Raum, um damit die Gesichter ihrer Verursacher zu rekonstruieren. Was als künstlerisches Spiel mit Möglichkeiten begann, könnte durch neue Technologien und Bilderkennungssoftware bald Wirklichkeit werden.
Die Künstlerin Heather Dewey-Hagborg wusste so gut wie nichts über Gentechnik, als sie sich 2012 entschloss, in den Strassen New Yorks auf DNA-Jagd zu gehen. Im Warteraum eines Therapeuten war ihr Blick zufällig auf ein langes, dunkles Haar gefallen, das an der Rissstelle eines gesprungenen Bilderglases klebte. Es musste dort hineingeraten sein, als sich jemand kurz daran angelehnt hatte. Als sie später auf der Strasse stand, ertappte sich Dewey-Hagborg dabei, wie sie plötzlich überall Spuren menschlicher DNA entdeckte: Lippenstiftspuren auf Zigarettenstummeln und gebrauchten Kaffeebechern, ausgespuckte Kaugummis. Sie beschloss, die DNA-Reste für ein Kunstprojekt zu sammeln.
Um herauszufinden, wie viel ein einzelnes Haar über einen Fremden erzählt, befragte die Künstlerin Experten von Genspace[1], dem weltweit ersten Gemeinschaftsbiolabor in Brooklyn. Sie brachte einige Muster mit, aus denen das Labor Gensequenzen extrahierte. Mithilfe des Open-Source-Programms Morphase[2] gelang es Dewey-Hagborg, digitale Modelle von Gesichtern zu entwerfen. So machte die Künstlerin die anonymen Verursacher der DNA-Spuren sichtbar, von denen sie mithilfe eines 3-D-Druckers auch plastische Modelle anfertigte.
Das erste Gesicht, das die Künstlerin druckte, war ihr eigenes. Unter dem Titel «Stranger Visions»[3] begann sie mit dem systematischen Sammeln, Dokumentieren, Archivieren der DNA-Spuren und dem Drucken von Gesichtern. Wie ähnlich sie dem tatsächlichen Besitzer sehen, bleibt offen. Weil das Programm immer eine Auswahl von Varianten bereitstellt, muss sich die Künstlerin willkürlich für eine entscheiden. So mischt sich künstlerische Wahrnehmung mit forensischer Technologie und dokumentarischer Methode. Präsentiert werden die Gesichter in Web-Videodokus oder Ausstellungen. Diese gestaltet Dewey-Hagborg als eine Art Archiv, das verschiedene Daten versammelt. Die plastischen Drucke hängen wie Portraits an den Wänden, unter ihnen eine Sample-Box mit dem jeweiligen Fundstück, der Adresse und einem Foto des Fundorts sowie der Auswertung der Gen-Analyse. Ein multimedialer Datenkasten aus Puzzleteilen unbekannter Biografien.
Heather Dewey-Hagborg bedient sich bei ihrer Spurensuche verschiedener dokumentarischer Strategien: der Recherche im Feld, dem Verfassen von Protokollen, dem Produzieren eines möglichst realitätsnahen, neutralen Portraits. Ihr Resultat ergibt aber ein Bild, das sich geradezu als Umkehrung des journalistischen Portraits verstehen lässt: Die Künstlerin setzt aus den Fragmenten, die sie rekonstruieren kann, keine Geschichte zusammen, sondern präsentiert die Daten in ihrer Gebrochenheit. Sie rekonstruiert keine Biografien, sondern demonstriert, wie diese zugänglich gemacht werden könnten. Die Frage, was sich wirklich über die rekonstruierten Fremden feststellen lässt, schwebt wie ein Schleier über den Portraits, die Dewey-Hagborg von ihnen herstellt.
Die Künstlerin versucht nicht, anhand ihrer Daten auf eine mutmassliche Biografie zu schliessen. Die Geschichten, die hinter den DNA-Funden stehen, werden nicht aufgeklärt. Die Stärke der Arbeit – und ihre Pointe – liegt darin, dass sie das gar nicht kann. Denn wieviel sich mit diesem Verfahren über die betroffenen Personen herausfinden lässt, ist vor allem eine Frage der technologischen Machbarkeit. Der dokumentarische Wert der DNA-Spuren wird in Dewey-Hagborgs Kunstprojekt als Potenzial sichtbar. Wie viele Informationen dem aufgespürten Material tatsächlich zu entlocken sind, hängt allein davon ab, wie exakt die Extraktions- und Softwaretechnologien sind. Damit offenbart die Arbeit zugleich auch eine düstere Vision der nahen Zukunft. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis es möglich ist, das Aussehen eines Menschen so genau zu bestimmen, dass sie oder er per Erkennungssoftware auf Bildarchiven wie Facebook oder Instagram gefunden werden kann.
[2] http://faces.cs.unibas.ch/bfm/?nav=1-0&id=basel_face_model
[3] http://deweyhagborg.com/projects/stranger-visions
Philipp Spillmann studiert im Master Kulturpublizistik.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.