von Max Wild –
Tagsüber wird ein bürgerliches Leben geführt, abends gekidnappt: Der auf einem wahren Kriminalfall beruhende Thriller „El clan“ erzählt die Geschichte der Familie Puccio kurz vor dem Ende der argentinischen Militärdiktatur.
Die Familie. Ein sicherer Rückzugsort, ein Hort bedingungsloser Liebe. Selten entwickelt der Mensch so starke Stränge wie die zur Familie, selten fühlt man sich so geborgen wie in Gesellschaft seiner Liebsten. In einigen Fällen teilt man sich nicht nur das Zuhause, sondern arbeitet gemeinsam im Familienbetrieb, wo Know-how und Tradition fürsorglich von einer Generation zur nächsten gereicht werden. Ganz ähnlich bei der Familie Puccio in Buenos Aires: Vater Arquímedes leitete die Geschäfte, seine Söhne Alejandro und Daniel halfen, Kunden „zu akquirieren“. Die Frau des Familienoberhauptes, Epifanía, sorgte Zuhause für Ordnung – und verschloss mit aller Vehemenz die Augen vor der Realität. Nur so sind die makabren Ereignisse zu erklären, die sich im Hause Puccio zutrugen. Arquímedes sprach in väterlichem, gleichzeitig determiniertem Ton zwar immerzu von „Arbeit“ und „Gästen“, die Wahrheit aber zeigte ein weitaus grausameres Bild: Geiselnahme und Mord.
Pablo Traperos mitreissender Film «El clan» beschreibt die auf Fakten beruhende Geschichte einer scheinbar normalen argentinischen Familie in einem ruhigen Viertel der argentinischen Hauptstadt der frühen 80er Jahre. Der Film aber leuchtet hinter die Fassade und entblösst das verstörende Gebilde einer kriminellen Familie, die das repressive Klima Argentiniens zu ihrem Vorteil nutzt. Paterfamilias Arquímedes ist die personifizierte Boshaftigkeit. Sein stures Festhalten an patriarchischen Werten wie Respekt und Konformität ist untrennbar mit seinem kaltblütigen Sadismus verbunden. In seiner eigenen Welt sind die Entführungen, die Gräueltaten und Morde ein Ausdruck seiner Rechtschaffenheit. Er ist tatsächlich, mit Abstrichen, ein fürsorglicher Familienvater und ehrbarer Vorstadtbürger – nur entführt er im Verborgenen Menschen und hält diese in seinem Keller gefangen.
Der kriminelle Familienbetrieb funktioniert nur, weil es Schutz von «oben» geniesst. Argentinien wird von einer militärischen Diktatur geführt und hat sich darauf spezialisiert, etwaige Kritiker verschwinden zu lassen. Bis heute leckt das Land noch seine Wunden: Von rund 30’000 «desaparecidos», «Verschwundenen» ist bis zum Ende des Regimes 1983 die Rede. Arquímedes’ Bezugsperson ist ein General im inneren Machtzirkel, der sich allmählich aufzulösen beginnt. Der Patriarch aber ist des Geldes wegen in diesem Geschäft, seine Opfer werden nach der Grösse ihrer Geldbeutel ausgesucht. Darunter ist auch ein wohlhabender junger Mann aus Alejandros Rugbyteam. Hier zeigt sich die Skrupellosigkeit Arquímedes: Ob der Sohnemann nun will oder nicht – er wird in dem Familienbetrieb hineingerissen.
Alejandros jüngerer Bruder Guillermo verlässt die Familie, um endgültig aus dem Geschäft auszusteigen. Dafür kehrt der älteste der Söhne, Maguila, unverhofft aus Neuseeland zurück und steigt voller Elan in die kriminellen Machenschaften seines Vaters ein. Die weiblichen Familienmitglieder wagen es nicht, Arquímedes zu hinterfragen und formen so die glaubhafte Fassade einer traditionellen lateinamerikanischen Familie. Das Familienoberhaupt unterstützt, umsorgt und behütet seine Kinder in fürsorglicher Manier und unterstreicht damit seine sich selbst auferlegte Rolle als Ernährer und Beschützer.
Eine Szene führt dem Zuschauer die Gegensätzlichkeit von Alejandro und Arquímedes besonders drastisch vor Augen: In schnellen Schnitten wechselt Trapero zwischen der kaltblütigen Folterung des Vaters an Alejandros Teamkollegen, während dieser sich mit seiner Freundin auf dem Hintersitz seines Autos zu einem Sommerhit des Jahres 1983 aus dem Radio vergnügt. Gewalt und Sex wird hier brachial auf einen Teller geklatscht und dem Zuschauer gleichgültig serviert. Dies offenbart aber auch eine Schwäche des Streifens, der doch zuweilen sprunghaft wirkt.
Die Entführungen kreieren, genauso wie die sich langsam offenbarende Tragödie von Arquímedes, starke Spannungsmomente: Während sich die Militärdiktatur in ihren letzten Zuckungen befindet und Alejandros Zweifel wachsen, wird der Vater Puccio rücksichtsloser und unmenschlicher. Trapero entschied sich in «El clan» dazu, dem Zuschauer die Verwandlung Argentiniens von einer Militärdiktatur zu einer Demokratie aus dem Blickwinkel der Schuldigen zu erzählen. Die Empathie die darin zum Vorschein kommt, berührt.
Auch Alejandro (gespielt von Juan Pedro Lanzini) berührt. Er ist jung, gutmütig und aufgrund seines Rugbytalents so etwas wie eine lokale Berühmtheit. Selbst seine junge Liebe Mónica (Stefanía Koessl) vermag es aber nicht, den Lockenkopf aus der väterlichen Umklammerung zu befreien. Die charismatische Leistung, der Arquímedes mit natürlicher Autorität und eiskaltem Blick spielt, überstrahlt alles.
Trapero erhielt an den Filmfestspielen in Venedig für «El clan» 2015 den silbernen Löwen für die beste Regie. Er erzählt die Leiden und Sorgen des argentinischen Volkes während der grausamen Militärdiktatur, deren Nachwehen bis heute noch spürbar sind. „El Clan“ beleuchtet dies auf eine unkonventionelle Weise, bis Alejandro schließlich doch noch Konsequenzen zieht – in einer spektakulären Schlussszene, für die allein es schon lohnt, sich den Film anzuschauen.
Der Text entstand im Kurs „Textanalyse und Textproduktion“ des Master Kulturpublizistik im HS 2016/17