von Marleen Fitterer –
In seinem neusten Dokumentarfilm zeigt Jan Gassmann einen Einblick in das Leben vier unterschiedlicher Paare und deren Probleme in einem von Krisen gebeutelten Europa.
Drei Monate, ein Auto, eine Kamera, ein Kontinent. Der Dokumentarfilm „Europe she loves“ handelt von der Liebe und von einem Europa in der Krise. In seinen Filmen setzt sich der Schweizer Regisseur Jan Gassmann schon immer mit grossen Themen auseinander: Tod, Sexualität, Liebe, Identität. Für sein neustes Werk, welches September 2016 in die Kinos kam, castete er über 100 Pärchen und wählte schlussendlich vier aus. Diese vier Paare am Rande Europas werden zum „Gleichnis eines Kontinents“, verspricht Gassmann. Doch ist das wirklich der Fall? Kann die Liebesgeschichte von ein paar ausgewählten Protagonisten die Identität Europas aufzeigen?
Vier Paare, ein Kontinent
Juan und Caro leben in Sevilla, Spanien. Er ist arbeitslos und sucht verzweifelt einen Job. Sie arbeitet nebenher als Kellnerin und wartet auf ihren Masterplatz. Sie haben ihre Spannungen und Probleme, doch tun diese ihrer Liebe keinen Abbruch. In Dublin, Irland wird das Leben von Siobhan und Terry gezeigt. Sie haben sich durch ihre Drogensucht kennengelernt und diese gemeinsam besiegt, doch während den Dreharbeiten werden sie erneut rückfällig. Penny und Nico leben zusammen in Thessaloniki, Griechenland, Er arbeitet als Pizzakurier und sie als Kellnerin. Penny hat den grossen Wunsch, endlich Griechenland den Rücken zu kehren. In Tallin, Estland arbeitet Veronika nachts als Gogo-Tänzerin. Am Tag kämpft sie mit ihrem Mann Harri mit den Problemen einer Patchwork-Familie. Alle haben sie Geldprobleme, und alle sind irgendwie indirekt von der Krise Europas getroffen. Es gibt nicht viel, was sie haben ausser ihrer Liebe.
Die Liebe filmen
Die Paare werden in ihren intimsten Momenten gefilmt, beim Sex, beim Crack rauchen, beim Streiten und beim Klauen. In einer Kritik zu Europe she loves wurde über die grossartige schauspielerische Leistung geschrieben – nur, dass die Paare keine Schauspieler sind. Es ist beeindruckend, wie brutal ehrlich, unverblümt und ungehemmt der Film die Liebe der vier Paare zeigt. Die Grenzen zwischen Dokumentarfilm und Fiktion verschwimmen und man vergisst immer wieder, dass es sich um eine Dokumentation handelt. Das vergassen wohl auch die Protagonisten selbst, was den Film so einzigartig macht. Lange Kamerafahrten durch Landschaften, Vororte, Friedhöfe, endlose Felder und Ruinen an der Peripherie Europas verleihen dem Film zusätzlich Road Movie-Flair. Der Film hat Zeit. Das Filmteam hält so geduldig und beharrlich drauf, dass es fast weh tut, Tag und Nacht, beim Sex, beim Streit, beim Nichtstun.
Jan Gassmann hat mit seinem Film die Thematik Liebe für den Dokumentarfilm mit einer Radikalität erschlossen, die man so selten sieht. Durch die subjektiven Erfahrungen seiner ausgewählten Paare schafft er es tatsächlich eine europäische Identität darzustellen, zumindest die Identität eines Zeitgeistes, den man überall in Europa finden kann. Gassmann zeigt eine europäische Generation und ihre Probleme, die, wie es das Motto der EU es behaupten mag, weit davon entfernt ist, „in Vielfalt geeint“ zu sein.