von Philipp Spillmann –
Wandernde Grenzlinien, Internet-Drohnen, verlassene Schlachthöfe, die zu Astronautentrainingsstätten werden: Das 2016 erschienene Migrant Journal thematisiert Migration in ungewöhnlichen Facetten – und bringt damit die Migrationsdebatte neu auf Kurs.
Nicht jedes Magazin beginnt mit einem Manifest. Das Migrant Journal tut es, aber mit eher bescheidenem Ton: „Worüber wird es sprechen? Migration. Du meinst die Migrationskrise? Sie und andere Dinge. Migration ist überall und es ist Zeit, dass wir uns wieder daran erinnern. Es ist Zeit, Schreiber, Raumdenker, Designer, Künstler und Wissenschaftler aller Art zu vereinigen und den Begriff der Migration erneut zu überdenken.“
Nicht die Welt soll verändert, nicht das Leben neu gelebt, nicht die Menschheit gerettet werden. Es geht schlicht darum, in einen Diskurs zu intervenieren, der ignoriert, dass Migration die historische Regel und nicht die Ausnahme ist. Es gäbe weder Französisch noch Englisch, keine Weltreligionen, kein Amerika, kein Russland und kein China, wären Menschen nicht ständig migriert. 2015 war davon in den Medien nur wenig zu sehen und zu hören. Migration war damals vor allem ein Synonym für Krise. Und genau in diesem Kontext, zwischen unvorhergesehenen Grenzöffnungen und Brandanschlägen in Flüchtlingsheimen, begann der Dialog zwischen vier jungen Migranten, der zum obigen Manifest und der ersten Ausgabe des Migrant Journals führen sollte.
Über ein Jahr lang tauschten die vier jungen Studenten zwischen London und Zürich per Skype ihre Gedanken aus, diskutierten, planten und editierten, bis sie sich zum Launch ihres fertigen Magazins zum ersten Mal richtig gegenüberstanden. Der kosmopolitische Entstehungskontext des Magazins manifestiert sich auch in dessen Konzept: Das Migrant Journal ist eine sechsteilige, nach Themen gegliederte Publikationsreihe, die als diskursive Aktion auftritt, sich als „intellektuelle Antwort auf die Migrationskrise“ versteht und als Zeitdokument lesbar werden soll. Publikationssprache ist Englisch. Der erste Band trägt den Titel «Across Country» und widmet sich dem ländlichen Raum. Dazu gehört eine Reportage über Migrationsströme durch Mexiko ebenso wie eine Studie des berühmten Soziologen Henri Lefebvre über das Campan-Tal in den französischen Pyrenäen.
Mit seinen Beiträgen zeigt der Band nicht nur, dass alles Mögliche migrieren kann und es auch tut, sondern auch, wie der ländliche Raum zum Motor der Moderne und Angelpunkt der Globalisierung wird. Damit interveniert das Magazin gleich doppelt in den zeitgenössischen Migrationsdiskurs, wie er sich seit der mediterran-kontinentaleuropäischen Flüchtlingskrise vorwiegend darstellt: Einmal unterwandert der Zugang zum Begriff Migrant das Verständnis desjenigen, der bzw. das migriert. Ein Beitrag thematisiert etwa die Migration von Grenzlinien, nämlich jener zwischen Italien und Österreich, die auf sich bewegenden Gletschermassen ruht. Der Beitrag beschreibt mit Text, Bild und Grafiken das Projekt „Italien Limes“, das ursprünglich 2014 für die Architekturbiennale von Venedig zusammengestellt wurde, sich aber bis heute fortsetzt. Ein anderer Beitrag zeigt, wie sogar ganze Landschaften migrieren können, etwa die Flussdeltas von Kalifornien und deren Biosphäre. Mit solchen Artikeln unterwandert das Migrant Journal auch Wahrnehmungen von Territorien, die hier nicht mehr als Container oder Objekte von Migration, sondern als nichtmenschliche Subjekte ausgewiesen werden.
Ein zweiter Fokus gilt der Globalisierung. Wo diese sonst oft als Prozess verstanden wird, der Menschen entwurzelt, verarmt und in immer stärker wachsende globale Zentren treibt, wird hier der rurale Raum als global vernetzter Lebensraum mit hoher Integrationskraft beschrieben. Beispielhaft dafür ist etwa der Bericht „Flow and Permanence in the Garden of England“, der die Verkabelung und Kultivierung in der englischen Grafschaft Kent beschreibt, durch die um 1830 der erste Passagierzug der Welt fuhr und das heute geradezu von Flugstrecken, Häfen, Stromnetzen und Windfarmen durchwoben ist.
Das Magazin enthält Beiträge aus verschiedenen Disziplinen, was die persönlichen Interessen der Macher*Innen spiegelt. Unter ihnen sind nicht nur Journalisten, sondern auch Wissenschaftler und Designer. Scharnier der verschiedenen Zugänge zum Thema ist jeweils der dokumentarische Charakter, mit dem sie sich zu Heftbeiträgen fügen. Handle es sich dabei um eine klassische Fotoreportage zur Wasserknappheit im Iran oder um die Dokumentation einer politischen Performance zu hoher See: auch ein Kunstwerk, ein Forschungsbericht, eine Grafik oder ein Gesetzestext können dokumentarischen Wert haben.
Das Dokumentarische des Migrant Journals entspricht eher einer Haltung, die gegenüber der Welt eingenommen wird, als einer bestimmten Form des Beschreibens und Erklärens. Die Reportage bricht gewissermassen aus ihrer klassischen Form aus und bewegt sich durch ein Kaleidoskop verschiedener Darstellungsformen. So ist das Migrant Journal nicht nur ein Magazin, das Migration dokumentiert, es ist auch eines, in welchem das Dokumentarische selbst migrantisch wird.
Philipp Spillmann studiert im Master Kulturpublizistik.
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.