von Philipp Spillmann –
Der Dokumentarfilm «The Act of Killing» stellt vergangene Morde nach, indem er die Mörder von damals vor die Kamera stellt. Das wirft einige Fragen darüber auf, was es eigentlich heisst, eine Szene nachzustellen.
Dokumentarfilme greifen oft auf zwei erzählerische Strategien zurück, um die Vergangenheit ins Bild zu holen: Sie verwenden Archivmaterial und stellen Szenen nach. Mit Beidem verfolgen sie die Veranschaulichung und gleichzeitige Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse. Das heisst, sie setzen ein audiovisuelles Konstrukt an die Stelle der Geschehnisse. Es bleibt also immer eine Lücke zwischen Darstellung und Realität. Was geschieht nun, wenn man das alles durcheinanderbringt, indem man eigene Dokumente erzeugt, statt auf ältere Dokumente zurückzugreifen? Wenn man eine Szene nicht von Schauspielern nachstellen lässt, sondern von den Personen selbst, die damals beteiligt waren? Handelt es sich dann noch um nachgestellte Szenen, oder schon um etwas Anderes, Realeres? Entsteht dann lediglich eine andere Form der Nachstellung oder bereits ein neues Dokument? Kommt man der Realität damit vielleicht doch irgendwie näher? Oder entsteht eine ganz neue Form von Realität?
Ein Dokumentarfilm, der diese Fragen auf brisante Weise aufwirft, ist «The Act of Killing» (2012) des britisch-amerikanischen Filmemachers Joshua Oppenheimer. Der zweistündige Film, an dem Oppenheimer sieben Jahre lang arbeitete, behandelt die Aufarbeitung eines Massenmordes, der sich zwischen 1965 und 1966 in Indonesien ereignete. Damals wurden infolge eines Militärputsches unter General Suharto über eine Million Menschen Opfer gezielter Verfolgung und Tötung. Viele Morde wurden durch paramilitärische Gruppierungen und kriminelle Banden ausgeübt. Die Täter werden öffentlich bis heute als Helden verehrt. Die paramilitärische Organisation Pemuda Pancasila (PP) verzeichnet heute über drei Millionen Mitglieder, also knapp acht Prozent der Bevölkerung Indonesiens. Entsprechend stark ist ihre Macht im Land verankert. Oppenheimer konnte einige Täter von damals aufspüren und davon überzeugen, als Protagonisten in einem Spielfilm mitzuwirken, der die Geschichte des Massakers erzählt. Oppenheimers Dokumentarfilm handelt von der Produktion dieses Films.
Lächeln und Töten
The Act of Killing beginnt mit einem Zitat von Voltaire: «Es ist verboten zu töten; deshalb werden Mörder bestraft, es sein denn, sie töten in Massen und zum Klang von Trompeten.» Es folgt eine schräge, fast surreale Szene vor einem Wasserfall. In grellem Licht bewegt sich eine Gruppe von Tänzerinnen rhythmisch hin und her. In der Mitte steht der grauhaarige Anwar Congo, Bandenchef, stolzer Mörder hunderter Menschen und Hauptperson des Films. Ein paar Schnitte später erklärt er, wie er die Leute tötete, die ihm überbracht worden waren: Weil er nicht mehr wusste, wohin mit dem ganzen Blut, wechselte er die Methode und erwürgte sie mit einem Stück Draht. Wie das in etwa aussah, demonstriert er gleich vor laufender Kamera an einem Untergebenen. Währenddessen schildert er den Ablauf des Mordes, als ob es sich um einen ganz normalen Bürojob handelte. Am Ende des Tages gingen sie, tranken, feierten bis in die Nacht hinein. Gedreht wurde auf derselben schmutzigen Terrasse, auf der die Morde stattgefunden hatten.
Szenen wie diese ziehen sich durch den ganzen Film. In einer spielt Congo mit seiner Gilde ein Verhör nach, wobei das Opfer ein Mann ist, dessen Stiefvater zur Zeit der Massenmorde umgebracht worden war. Für eine andere Szene gehen sie mit der Pemuda Pancasilia in ein Dorf, um das Massaker an den Bewohnern des Dorfes nachzustellen.
Mit den Dreharbeiten findet eine Art Aufarbeitung statt. Die Mörder gestehen ihre Taten, meist ohne zu realisieren, was das wirklich bedeutet: Für die meisten von ihnen handelt es sich nicht um Verbrechen, sondern um Heldentaten oder um Notwendigkeiten eines Krieges, auch wenn es sich bei vielen Opfern bei weitem nicht nur um gefährliche Systemgegner oder Kommunisten gehandelt hatte, sondern um ethnische Minderheiten, Intellektuelle oder willkürlich ausgewählte Personen. Es kommt im Film immer wieder zu Diskussionen um die Taten, wobei es so aussieht, als ob sich einzig bei der Hauptperson Anwar Congo so etwas wie ein Gesinnungswandel anbahnt. Eine Szene, bei der er selbst in die Rolle des Opfers schlüpft und nach einem brutalen Verhör mit verbundenen Augen mit einem Stück Draht gewürgt wird, muss er abbrechen. Er erzählt immer wieder von Träumen, die ihn verfolgen. Und als er seinen Enkelkindern stolz den angeblich fertigen Spielfilm zeigt, beginnt er zu Zweifeln. Am Ende des Films steht er dann auf der Terrasse, auf der er seiner Arbeit nachgegangen war, und fragt verzweifelt in die Nacht, ob es nicht doch sein könnte, dass das alles eigentlich etwas ganz Schreckliches gewesen sei. Er erbricht sich.
Realität als Film
«The Act of Killing» kann auf verschiedene Arten betrachtet werden. Zunächst geht es um Erinnerungskultur. Der Film zeigt inhaltlich, wie die Massaker bis heute glorifiziert werden, wie selbstverständlich das Töten wahrgenommen wird und wie gross die Macht der damals involvierten Todesschwadronen immer noch ist. Wenn sie wollten, könnten sie es jederzeit wieder tun, beteuert ein aufgebrachter Taxifahrer in einer Szene. Die Informationen über den Hintergrund all dieser Morde sind eher spärlich. Der Film portraitiert nicht die Massaker, sondern interveniert in deren (Nicht-)Aufarbeitung.
Auf einer zweiten Ebene thematisiert er das Erleben von Realität. Immer wieder erklärt Anwar Congo, dass er sich bei seinen Taten von Hollywood-Filmen inspirieren liess. Auch verstehen sich die Gang-Mitglieder als Schauspieler eines Spielfilms, was sie dazu verleitet, ihre Erinnerungen als schauspielerische Handlung zu inszenieren und Oppenheimers Team Einblicke in die Geschichte Back-Stage zu geben. Andererseits geht es um das Erleben von Film als Realität. Es ist das inszenierte Nacherleben beim Nachstellen, das Anwar Congo überwältigt und seine Bedenken auslöst. Während dem Film kommt es fortlaufend zu Momenten, in denen das Inszenieren von Brutalität in eine neue Form aktueller Brutalität umschlägt. Kinder, die bei den Dreharbeiten zusehen, geraten in Panik, weil sie meinen, dass Gesehene sei echt. Einige Beteiligte leiden in ihrer Rolle – sei es, weil sie wohl nicht ganz freiwillig mitmachen, sondern unter Druck der Gangster, oder weil diese bei ihren nachgestellten Grausamkeiten so nahe wie möglich an die Wirklichkeit herankommen möchten.
Mehr als ein Dokumentarfilm
Schliesslich geht es dem Film um die Doppelbödigkeit des Re-Enactments: Einerseits werden die vergangenen Handlungen reproduziert. Andererseits kommt es im Zuge des Darstellens vergangener Gewalt zur Erzeugung neuer Gewalt.
Die Gangster treten vor der Kamera nicht nur als Zeugen der Vergangenheit auf, sondern machen auch das Filmteam und die Zuschauer zu Zeugen der Dinge, die vor der Kamera ablaufen. Man sieht zwar nicht den eigentlichen Mord, aber dessen Bezeugung. Insofern handelt es sich bei «The Act of Killing» nicht nur um eine Dokumentation. Der Film beobachtet, beschreibt und erfasst ein Milieu. Aber er ist auch selbst ein Dokument – ein Beweisstück, das Zeugnis der Verbrechen ablegt, die von diesen lächelnden Männern begangen wurden.
Philipp Spillmann studiert im Master Kulturpublizistik.
Quellen:
http://thevideo.me/nzcm4r27kbpq
https://www.ica.org.uk/whats-on/act-killing-directors-cut
http://www.bbc.com/news/entertainment-arts-26122788
Dieser Beitrag ist ein Produkt von metareporter, einem Projekt des Magazins REPORTAGEN und der Plattform Kulturpublizistik. Die Autor/innen von metareporter sind Studierende des Master Kulturpublizistik der ZHdK.